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Flucht in die WestukraineVon Kiew bleibt Trockenfisch

Wie fühlt es sich an, plötzlich von zu Hause fort zu müssen? Und was tut man am neuen Ort, um nicht die Nerven zu verlieren?

Frauen fertigen Tarnelemente und Tarnnetze in der Westukraine Foto: Europa Press/dpa

W ir fingen an, zu packen. Sogar die Worte „Ich verlasse Kiew“ machten mir Angst. Bei Mama stieg sofort der Blutdruck. Ich suchte meine Sachen zusammen und verstehe, dass, wenn ich jetzt gehen würde, völlig unklar sei, wann ich hierher zurückkäme. Dann redete ich mit Mama und dachte: Wenn ich bleibe, ist nicht klar, wann ich sie und Papa wiedersehe… und ob. Ich möchte, dass meine Eltern (sie sind über 70) in Sicherheit sind.

Der Mann, der uns wegbringen sollte, verspätete sich, man kam gerade nicht so gut durch. Ich setze mich mit den Eltern ins Auto. Und dann fing ich wie aus heiterem Himmel zu weinen an und weinte die ganze Fahrt über.

Es ist der erste Tag nach der Ankunft in der Westukraine. Öffentlich keine Orte, Namen und Details zu nennen, ist mittlerweile schon zur Gewohnheit geworden. Im Supermarkt gibt es alles zu kaufen, sogar Brot. Es gibt auch keine Schlangen. Aus den Bankautomaten bekommt man Bargeld. Ich verstehe, dass das immerhin gut ist. Aber es zerreißt mir das Herz, dass es in meiner Heimatstadt Kiew überhaupt nicht so ist.

Olena Makarenko

35 Jahre, Journalistin und Dokumentarfilmerin . Hatte Kyjiw vorübergehend Richtung Westukraine verlassen, lebt aktuell wieder in der ukrainischen Hauptstadt

Als Erstes gehe ich zum Friseur, um mir die Haare schneiden zu lassen. Es scheint, als sei das Blödsinn im Krieg, aber mir kommt es vor, als würde es dann leichter. Die Friseurin stellte die üblichen Fragen. Ich kann nicht anders und fange an zu weinen. Sie schenkt mir Kräutertee ein und sagt, dass, wenn ich jetzt hier sei, das so sein solle. Man müsse Gott vertrauen. Und sie fragt, ob ich später mitkommen will, um Netze fürs Militär zu knüpfen. Sie sagt, dass die Arbeit mit den Händen beruhige. Ich gehe dann mit, aber die Arbeit verwirrt mich. In meinem Kopf schwirrt die Frage herum: „Was tust du hier?“ Ich bin Journalistin und meine Front ist die Nachrichtenfront.

Ich bin zum ersten Mal in dieser Stadt. Sie ist hübsch. Normalerweise fotografiere ich viel mit dem Handy. Jetzt darf man das nicht tun. Kein Mosaik, keinen Platz, kein Haus mit ungewöhnlicher Architektur, keine Werbetafeln mit der Aufschrift „WSU (das sind die bewaffneten ukrainischen Streitkräfte), ihr seid die Besten“ darf fotografiert werden. Man könnte mich für eine Spionin oder Saboteurin halten.

Война и мир – дневник

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Am ersten Tag hat ein Verwandter den Ausblick aus seinem Fenster geknipst. Nur für sich selbst. Nach zehn Minuten kamen sie in seine Wohnung, baten ihn, das Foto zu löschen und haben das auch überprüft. Sicherheit ist im Augenblick wichtiger als alles andere.

Trotz all dem hat mich das Netzeknüpfen ein bisschen beruhigt. Zurück in der Wohnung sehe ich, dass die Eltern Essen gekauft haben. Aber ich nehme nichts davon, ich esse ein Stückchen von dem Trockenfisch, den ich aus Kiew mitgenommen habe. Es ist, als könnte dieses Stückchen die Entfernung verringern und die Illusion erzeugen, als sei nichts geschehen. Als sei es ein Stück Heimat. Es ist „von dort“. Die Eltern verstehen nicht, warum ich beim Essen weine – vermutlich, weil ich gerade die aktuellsten Nachrichten lese.

„Ich will zurück“. Man rät uns ab, sagt, dass in Kiew jetzt die Soldaten ihren Job machen und man sie nicht behindern darf. Und dass der Weg zurück gefährlicher sei als Kiew selbst. Das sind Ausflüchte. Und so sitzen wir hier mit unserem „Ich will nach Hause“, jeder Einzelne von uns.

Aus dem Russischen Gaby Coldewey

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