Flucht aus der Ukraine: Matheunterricht im Exil
Für ukrainische Schüler*innen fehlen tausende Lehrkräfte. Die Bundesländer setzen deshalb in Willkommensklassen geflüchtete Kolleginnen ein.
In einem der Klassenräume erzählt die Lehrerin von ihrer Flucht, von der Ankunft in Berlin und der Bürokratie bei der Registrierung als Geflüchtete. Sie spricht mit ruhiger Stimme, ihre blauen Augen wandern dabei immer wieder zum Fenster und zu ihrer Tochter, die das Gespräch ins Englische übersetzt. Ishchenko spricht kein Deutsch und nur gebrochen Englisch. Für eine Festanstellung als Lehrerin verlangt die Schulverwaltung allerdings sehr gute Deutschkenntnisse. Deshalb arbeitet die 42-Jährige bislang ohne festen Vertrag und ohne klare Perspektive, wie es nach dem Ende des Schuljahres weitergehen wird.
Olga Ishchenko ist eine von mehreren hundert Lehrerinnen, die aus der Ukraine geflüchtet sind und jetzt an Schulen in Deutschland unterrichten. Wie viele es genau sind, darüber führt nur ein Teil der Bundesländer Statistiken. Andere differenzieren nach Sprachkenntnissen, nicht nach Herkunftsland. Von Interesse ist, wer Ukrainisch oder Russisch kann und bei der Beschulung der Geflüchteten unterstützen kann.
Denn der Bedarf ist im ohnehin überlasteten Schulsystem groß: Die Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Karin Prien (CDU), geht davon aus, dass bis zu 400.000 Schüler*innen aus der Ukraine an Schulen in Deutschland unterrichtet werden sollen. Dafür würden 24.000 zusätzliche Lehrkräfte benötigt, sagte Prien im April dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.
In Berlin ist Muttersprachniveau erforderlich
Damit die Lehrer*innen schnell in Willkommensklassen eingesetzt werden können, sollen die Einstellungsbedingungen möglichst einfach sein: Anstelle von Führungs- oder Ausbildungszeugnissen sollen Selbsterklärungen genügen, da wichtige Dokumente oft bei der Flucht verlorengegangen sind oder nicht angefordert werden können. Andere Voraussetzungen, wie die Sprachkenntnisse, legen die Länder individuell fest.
Bundesweit gibt es deshalb teils unterschiedliche Regeln. Sachsen etwa bietet Bewerber*innen die Möglichkeit, neben der Arbeit Deutsch zu lernen und den Nachweis nachzureichen. Schleswig-Holstein stellt bis zum Schuljahresende 2022 nur Ukrainer*innen mit abgeschlossenem Lehramtsstudium ein. Auch grundlegende Deutschkenntnisse seien erforderlich, erklärt Kultusministerin Prien. In Berlin dagegen müssen ukrainische Bewerber*innen Deutschkenntnisse auf C1-Niveau – also nahezu Muttersprachniveau – nachweisen können, für Unterricht in der Herkunftssprache auf B1-Niveau. Von den mehr als 300 Lehrer*innen, die sich laut Senatsverwaltung in Berlin für den Unterricht in Willkommensklassen beworben haben, wurden bis Mitte April einem Sprecher zufolge nur rund 30 eingestellt.
Auch Olga Ishchenko kann deshalb nicht direkt am Berliner Gymnasium angestellt werden. Ihren Job als Lehrerin verdankt sie einer bürokratischen Brücke: Die Organisation Schlaufuchs Berlin, die Schulen unter anderem mit Förderkursen und Ferienprogrammen unterstützt, hat mit ihr einen Ehrenamtsvertrag vereinbart. Das Geld dafür stammt aus einem Corona-Etat, den die Senatsverwaltung den Schulen zur Verfügung gestellt hat. Diese können damit Organisationen wie Schlaufuchs Berlin bezahlen und ukrainische Lehrer*innen als zusätzliche Lehrkräfte beschäftigen. Das Corona-Geld läuft jedoch Ende Dezember aus, ob es danach weitere Mittel geben wird, ist unklar.
Online-Nachhilfe für ukrainischen Schüler*innen
Ishchenkos Vertrag reicht zunächst bis zu den Sommerferien. Pro Unterrichtsstunde erhält sie eine Pauschale von 20 Euro, hinzu kommen Sozialleistungen und ein Wohngeld, das sie beantragen will, sobald sie und ihre Tochter eine Wohnung gefunden haben. Bisher wohnen sie bei Ishshenkos Bruder, der schon seit acht Jahren mit seiner Familie in Berlin lebt.
Neben den zwei Mathestunden pro Woche gibt Ishchenko weiterhin Online-Nachhilfe für ihre ukrainischen Schüler*innen. Diese sind zum Teil noch im Land, so wie auch Ishchenkos Mann und ihr Sohn. Sie zu unterrichten sei nicht einfach, weil sie nicht wisse, was die Schüler*innen erlebt haben, erzählt sie. Aber das Lernen sei eine gute Ablenkung: „Wenn du Mathematik machst, denkst du über nichts anderes nach. Es nimmt deine Zeit und deine Gedanken in Anspruch, darauf kann man sich gut konzentrieren und sich von der Gewalt ablenken.“
Über den Krieg spricht Ishchenko in der Schule kaum – mit den Kolleg*innen wegen der Sprachbarriere, mit den Schüler*innen aus Sorge: „Wir wissen nicht, was mit den Kindern zu Hause passiert ist, ob jemand, der ihnen nahe stand, gestorben ist, ob sie gefangen genommen wurden, und so weiter. Das sind so dringende Probleme, dass sie nur in Anwesenheit von Spezialisten angesprochen werden können.“
Ähnlich erlebt das auch Daria Savchenko, eine ukrainische Lehrerin aus einem Vorort von Kiew. Weil sie selbst unsicher ist, wie viel sie laut ihrem Vertrag über ihren Job erzählen darf, will sie nicht mit ihrem richtigen Namen in der Zeitung stehen. Seit Mitte April unterrichtet Savchenko Mathematik und Informatik an einer Oberschule in Sachsen. Bei einer Informationsveranstaltung eines Integrationszentrums sei sie auf den Job aufmerksam geworden und habe sich direkt bei der Schule beworben, erzählt die 41-Jährige. In der Ukraine hat sie zuletzt an der Universität gearbeitet. Für die Bewerbung ließ sie ihre Abschlusszeugnisse übersetzen und beglaubigen, einen Sprachnachweis musste sie nicht vorlegen, erzählt Savchenko.
Schwierig, mit den Kindern über den Krieg zu sprechen
Seit Ende April unterrichtet sie in der Willkommensklasse. „Über das, was in der Ukraine passiert, wird nicht groß gesprochen. Wir kamen alle ungefähr zur gleichen Zeit an und wissen, warum.“ Gezielt mit den Kindern über den Krieg zu sprechen, traue auch sie sich nicht zu, dazu brauche es psychologische Hilfe, sagt sie. „Aber natürlich verbindet uns das Ganze, wir haben alle das gleiche Schicksal.“
Das gleiche Schicksal zu haben heißt nun auch, sich in der fremden Sprache zurechtzufinden. „Die Kinder können auch alle kein Deutsch. So fühlt man sich zusammengebunden“, sagt sie und lacht, „wir sind alle gleich schlecht in Deutsch.“ Sie erlebe an der Schule ein starkes Gemeinschaftsgefühl und viel Hilfsbereitschaft – sowohl von anderen Kindern als auch unter den Ukrainer*innen: „In meiner Klasse sind Kinder in unterschiedlichem Alter. In einer normalen Schule hätten sie vielleicht nie Freundschaft geschlossen, aber hier tun sie sich zusammen und helfen einander. Der Unterricht ist dadurch viel offener.“
Von den Kindern, die aus dem Westen der Ukraine kommen, überlegen einzelne bereits, mit ihren Familien zurückzukehren, erzählt Daria Savchenko. Schüler*innen aus den Abschlussklassen hingegen wollten eher bleiben. „Es ist in der Ukraine schwer, einen Job zu bekommen. Hier haben sie bessere Chancen als zu Hause.“ Ob sie selbst weiter in Deutschland unterrichten wird, wisse sie noch nicht. Ihr Vertrag an der Schule läuft zunächst bis zum Schuljahresende im Juli.
Auch für Olga Ishchenko in Berlin ist unklar, ob sie im nächsten Schuljahr weiter am Otto-Nagel-Gymnasium unterrichten wird. Dort soll der Deutschunterricht aufgestockt werden, sodass die ukrainischen Schüler*innen möglichst bald ohne Probleme am Regelunterricht teilnehmen können. Die Mathestunden nach ukrainischem Lehrplan bräuchten sie dann nicht mehr.
Wie viele ihrer Landsleute im Exil will Ishchenko zurück in die Ukraine, sobald es dort sicher ist und keine humanitäre Katastrophe mehr droht, sagt sie. „Es ist sehr schwierig, Pläne für die Zukunft zu machen. Tatsächlich möchte ich jeden Tag, jede Stunde, jede Minute bei meiner Familie in der Ukraine sein.“ Gäbe es eine Möglichkeit, langfristig an der Schule fest angestellt zu werden, würde sie aber bleiben – sofern die Vertragsbedingungen stimmen und keine Deutschkenntnisse erforderlich wären.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku