Flucht aus Kamerun nach Nigeria: Ngoe hat noch was zu erledigen

Der Konflikt in Kamerun hat die am wenigsten beachtete Flüchtlingskrise der Welt herbeigeführt. Thomas Ngoe ist selbst nach Nigeria geflohen.

Ein Mann in weißem Hemd steht vor einem Haus, vor dem eine Wäscheleine hängt

Thomas Ngoe im Flüchtlingslager in Nigeria: „Wir versuchen, etwas zu machen“ Foto: Katrin Gänsler

OGOJA taz | Die Straße, die zum Haus von Thomas Ngoe führt, wirkt so, als ob sie seit Jahrzehnten unverändert existiert. Rechts und links stehen Häuser in Einheitsgröße, alle aus den gleichen rötlich-braunen Backsteinen, manche mit kleinen Gärten. Hosen, Röcke und Hemden flattern auf Wäscheleinen, Plastikstühle sind längst gräulich geworden. Zum Wasserholen hat es die Ngoe-Familie nicht weit, da ein Brunnen an das kleine Grundstück grenzt. Ein Dutzend Frauen und Kinder stehen mit gelben Kanistern und Eimern an. Toiletten und Duschen sind hinter Planen versteckt.

Tatsächlich ist die Siedlung Agadom in der Nähe der Stadt Ogoja im südostnigerianischen Bundesstaat Cross River keine zwei Jahre alt. Als im Jahr 2017 immer mehr Kameruner aus dem anglophonen Teil ihres Landes nach Nigeria flüchteten, mussten die Zentralregierung, der Bundesstaat Cross River und das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) schnell handeln. Heute leben in Nigeria knapp 36.000 registrierte ­Flüchtlinge aus Kamerun. In Kamerun selbst sollen 530.000 Menschen aus den Provinzen Nordwest und Südwest auf der Flucht vor der Armee und den anglophonen Separatisten sein.

Thomas Ngoe bietet den einzigen Stuhl an, den die Familie hat. Er selbst setzt sich auf einen dreibeinigen Hocker. Seine Frau, die vier Kinder und das Pflegekind sind seit gut einem Jahr hier. Die Familie kam über die Grenze bei Ikom nach Ogoja, er selbst folgte drei Monate später nach. „Ich wollte noch versuchen, ein paar Güter zu sichern, Geld zusammenzubekommen. Ich habe auf der Farm gearbeitet. An etwas anderes war ja nicht zu denken.“ Damals hatten die Schulen im anglophonen Teil Kameruns längst geschlossen, erinnert sich der 37-jährige Biologielehrer. Nigeria sei die einzige Möglichkeit gewesen, um die Familie zu schützen, sagt Ngoe: „Nigeria kannte ich, weil ich hier von 2007 bis 2014 gelebt habe.“

Der Mann, der ein weißes Hemd und eine schwarze Hose trägt, erzählt, dass er in der kamerunischen Provinzhauptstadt Buea einer Studentenvereinigung angehörte. Während einer Demonstration für bessere Bildungschancen sei er verhaftet worden. „Wir wollten bloß bessere Möglichkeiten und mehr Plätze für Medizinstudenten haben. Der Frust war sehr groß.“

Nur auf dem Papier föderalisiert

Über strukturelle Benachteiligung klagen seit Jahren zahlreiche Menschen aus den englischsprachigen Landesteilen Kameruns. Wer Englisch statt Französisch spreche, würde diskriminiert. Zugang zu Jobs in der Hauptstadt Yaoundé oder der Handelsmetropole Douala fehle. Die Macht sei ungleich verteilt. Die Ursache dafür liegt in der Kolonialzeit: Nach dem Ersten Weltkrieg erhielten Großbritannien wie Frankreich Mandate des Völkerbunds für unterschiedliche Teile der einstigen deutschen Kolonie Kamerun. 1960 wurde der französische Teil unabhängig, nach einer Volksabstimmung schloss sich der englischsprachige Teil 1961 an und es entstand die Bundesrepublik Kamerun. Aber föderalisiert war Kamerun danach nur auf dem Papier, und auch das irgendwann nicht mehr.

Eine ab Herbst 2016 geplante komplette Frankophonisierung des Bildungs- und Justizsystems im anglophonen Landesteil ließ den schwelenden Konflikt aufbrechen. Proteste wurden mit Gewalt niedergeschlagen, aus Unruhen wurden Kämpfe, seit Herbst 2017 sollen mindestens 1.850 Menschen getötet worden sein.

Im Gespräch macht Thomas Ngoe die Regierungsseite für die anhaltende Gewalt verantwortlich. Manchmal meldet sich sein Cousin aus Douala und schickt ihm Fotos oder ein Video. Zu sehen sind meist Grausamkeiten.

Ständig schaut Ngoe auf sein Handy, um die Zeit zu überbrücken. Arbeit hat er nicht. „Wir versuchen, etwas zu machen und helfen im Camp“, sagt er. Um einen Job zu finden, seien die Transportkosten zu hoch. Außerdem hofft er, dass ihm jemand eine Nachricht von seinem Vater schickt, der noch immer in Kamerun ist und den er gerne über die Grenze holen würde.

Separatisten wollen neuen Staat Ambazonien

Zu entlegenen Dörfern im Konfliktgebiet gibt es kaum unabhängigen Zugang. „Der kamerunischen Regierung widerstrebt es sehr, Hilfe zuzulassen“, sagt in Nigerias Hauptstadt ­Abuja UNHCR-Vertreter Antonio José Canhandula. Einer Mitarbeiterin der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) wurde trotz Visums die Einreise nach Kamerun verweigert, weil sie im anglophonen Landesteil Befragungen durchführen wollte.

In Nigeria leben 36.000 Flüchtlinge aus Kamerun. Im anglophonen Kamerun selbst sollen 530.000 auf der Flucht sein

Stark gemacht hat die Krise radikale Separatistenbewegungen, Rebellen und Trittbrettfahrer. Erstere fordern seit Oktober 2017 die Unabhängigkeit für die anglophone Region, in der rund 20 Prozent der gut 25 Millionen Einwohner Kameruns leben. Ambazonien soll der neue Staat heißen, eine Flagge und Entwürfe für eigenes Geld gibt es längst. Gerüchten zufolge soll finanzielle Unterstützung aus dem Ausland kommen.

Thomas Ngoe unterstützt den Gedanken an eine Sezession. Eine Teilung sei unumgänglich. Mit Kamerun fühle er sich schon lange nicht mehr verbunden. „Wenn es noch mein Land wäre, dann hätte ich es nicht verlassen“, sagt er wütend. Dass auch die Separatisten Menschenrechte verletzten, wehrt Thomas Ngoe ab. Die Untergrundkämpfer, die Gewalt gegen die Bevölkerung anwenden, seien Banditen, die nur den Namen nutzen. Dabei kommt es immer wieder zu Entführungen, sogar von Schulklassen und Fußballmannschaften. Gerade wurde der katholische Erzbischof von Bamenda, Cornelius Fontem, entführt. Die Aufmerksamkeit internationaler Medien ist den Tätern gewiss.

Auch HRW wurde ein Video zugespielt, das zeigt, wie mutmaßliche Unabhängigkeitskämpfer einen Mann foltern. Aufgenommen wurde es an der staatlichen technischen Schule in Bali, die längst verlassen ist. Die Organisation betont, dass die Aufnahmen von verschiedenen Personen geprüft und bestätigt worden sind. „Sie müssen sofort ihre Kämpfer zurückrufen und Angriffe, Folter und Missbrauch von Zivilisten unterbinden“, fordert Lewis Mudge, HRW-Direktor für Zentralafrika.

Die vergessenste Flüchtlingskrise der Welt

Wenn in der Nähe seines Hauses jemand vorbeigeht, hebt Thomas Ngoe manchmal leicht die Hand zum Gruß, redet aber gleichzeitig weiter. Nur bei einer Frage kommt der sonst so redselige Mann ins Stocken. „Es weiß niemand, wann wir zurückkehren können,“ sagt er dann. Ein Ende der Krise ist nicht in Sicht, nicht einmal eine Debatte darüber. Eine von der Zivilgesellschaft und Kirchen initiierte Generalkonferenz zur Lage im anglophonen Teil Kameruns wurde mehrmals verschoben, ein neues Datum gibt es nicht.

Vor einigen Wochen hieß es, dass es in der Schweiz Gespräche zwischen Regierung und Rebellen geben könnte. Ein erstes Vorbereitungstreffen fand sogar statt. Dabei ist ausgerechnet die Schweiz alles andere als neutraler Boden. Das Land gilt als zweite Heimat von Präsident Paul Biya, der seit 1982 an der Macht ist. Der 86-Jährige soll Kamerun zuweilen aus einem Genfer Hotelzimmer regieren und dort mehr Zeit als in Yaoundé verbringen. Als Biya Ende Juni wieder einmal in Genf war, gab es Demonstrationen gegen ihn vor seinem Hotel und einen schweren Zwischenfall, bei dem sechs seiner Mitarbeiter einen Schweizer Journalisten beschimpften und ihm Tasche, Handy und Portemonnaie abnahmen. Sie wurden mittlerweile zu drei- und viermonatigen Gefängnisstrafen verurteilt, Biya reiste vorzeitig wieder ab und von Gesprächen in der Schweiz ist seitdem keine Rede mehr.

Nach Einschätzung des Norwegischen Flüchtlingsrats (NRC) ist aktuell keine Flüchtlingskrise auf der Welt so vergessen wie die im anglophonen Kamerun. „Sie ist nicht sichtbar“, sagt auch Antonio José Canhandula vom UNHCR. Das gilt sogar für Kamerun selbst. Aus der Hauptstadt Yaoundé heißt es, dass es kaum Solidaritätsbekundungen aus der Zivilgesellschaft gibt. Protestmärsche über das, was im eigenen Land passiert, bleiben aus. Thomas Ngoe ärgert sich auch über jene Politiker, die aus den betroffenen Provinzen stammen. Überall herrsche Schweigen.

Der Flüchtling steht auf. Er hat noch etwas zu erledigen. „Wir müssen dringend mit der UNO sprechen. Sie hat versagt“, sagt er zum Abschied. „Es geht nicht um Essen oder die Monatsrationen für uns Flüchtlinge. Es geht darum, dass endlich über Kamerun gesprochen wird. Oder müssen erst alle ermordet werden?“

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