Flucht als Geschäft: Einladung zur Erpressung
Kaum etwas fürchtet der Westen so sehr wie Geflüchtete. Für einige Staaten und Firmen ist diese Angst zum Milliardengeschäft geworden.

So deutlich hatte es vorher noch keiner gesagt: „Wir können jederzeit die Grenzen zu Griechenland und Bulgarien öffnen und die Flüchtlinge in Busse setzen“, erklärte der türkische Präsident Erdoğan im November 2015 einer Gruppe hochrangiger EU-Beamter. „Wie wollen Sie also mit den Flüchtlingen umgehen, wenn Sie keine Einigung erzielen können? Sie töten?“
Wenige Monate später trat die „Erklärung EU-Türkei“ in Kraft: Erdoğan versprach, über zwei Millionen Geflüchtete in der Türkei zu halten. Dafür flossen EU-Milliarden in das Land und er bekam das Versprechen auf eine Wiederbelebung des EU-Beitrittsprozesses und die Aussicht auf EU-Visafreiheit für türkische Bürger.
Dass Staaten Geflüchtete nutzen, um Druck auf andere auszuüben, ist nicht neu. Die USA und die Sowjetunion nutzten Vertreibungen im Globalen Süden, um die Einflusszonen der jeweils anderen zu schwächen. In Washington sah man Flüchtlinge als „Waffe“ im Kalten Krieg. Die arabischen Staaten setzten die palästinensischen Geflüchteten als Druckmittel im Kampf gegen Israel ein. Hutu-Milizen nutzten Flüchtlingslager im Kongo zur Rekrutierung und eskalierten so den Ruanda-Krieg. Auf dem Balkan war Zwangsvertreibung eine wesentliche Strategie in den Kriegen der 1990er Jahre.
Rechtsextreme schüren im Westen seit Jahren Panik vor Geflüchteten. Politiker wie Friedrich Merz geben ihnen recht, wenn sie Sätze sagen wie: „Das größte Problem ist die illegale Migration.“ Das impliziert die unbedingte Notwendigkeit, das Problem aus der Welt zu schaffen. Statt wie 2015 „Wir schaffen das“ heißt es nun: „Hier kommt keiner mehr rein.“ Scheitert dieses Vorhaben, hat man versagt. Es ist eine Einladung zur Erpressung.
Das Verhältnis kehrt sich um
An der Universität Birmingham erforscht der Politikwissenschaftler Gerasimos Tsourapas den Zusammenhang von Vertreibung und Außenpolitik. Sie reiche lange zurück, sagt er. Doch der EU-Türkei-Deal von 2016 habe die Möglichkeiten verändert, Migrant:innen als Hebel in internationalen Verhandlungen und Konflikten zu nutzen. „Dass die Europäer sich auf das Modell eingelassen haben, hat für viele andere die Tür geöffnet.“
Lange wurde darüber diskutiert, wie die EU versucht, Druck auf Herkunfts- und Transitstaaten zu machen, damit diese beim Grenzschutz und bei Abschiebungen kooperieren. Langsam kehrt sich das Verhältnis um: Wer mit größeren Flüchtlingsankünften drohen kann, sitzt nun am längeren Hebel. Geflüchtete, lange vor allem als Last betrachtet, werden in einer neuen Migrationsdiplomatie auch zum „Asset“, zum Kapital. Auf den Routen Richtung Europa oder Richtung USA werden sie zum handelbaren Gut.
Tsourapas spricht von „refugee rentier states“, von Staaten also, die Geflüchtete als Einnahmequelle sehen. Dies kann durch offene Erpressung geschehen: „Gebt uns etwas oder wir treiben die Menschen zu euch.“ Oder kooperativ: „Helft uns, damit die Menschen bei uns bleiben können.“ Zur Erpressung neigten Staaten dann, wenn sie der Meinung seien, geopolitische Bedeutung zu haben und eine bedeutende Anzahl von Flüchtlingen aufzunehmen. Andernfalls setzten sie eher auf Kooperation. Die Grenzen sind dabei fließend.
Kenia versuchte im Mai 2016 mit der Drohung, das damals weltgrößte Flüchtlingslager Dadaab zu schließen, mehr Hilfe von der internationalen Gemeinschaft zu erzwingen – mit vorübergehendem Erfolg. Belarus versuchte ab 2021 mit der Schleusung einiger Zehntausend Menschen aus dem Nahen Osten Richtung Polen drohende EU-Sanktionen abzuwehren, scheiterte allerdings. Trotzdem setzt das Land die Praxis fort.
Marokko erwirkte durch Erpressung gar die Anerkennung seiner Herrschaft über Westsahara. 1975 hatte Marokko das Gebiet annektiert, die frühere Kolonialmacht Spanien weigerte sich über Jahrzehnte, dies anzuerkennen. Im Mai 2021 ließ Madrid den Führer der westsaharischen Unabhängigkeitsbewegung zu einer Krankenhausbehandlung einreisen. Innerhalb von nur zwei Tagen ließ Marokko rund 10.000 Menschen über die Grenze zur spanischen Enklave Ceuta. Spanien gab nach und erkannte die Westsahara als Teil Marokkos an.
Aus Sicht Tsourapas hatte der Türkei-Deal der EU eine Anreizfunktion für andere Regierungen. Die sagten sich, so Tsourapas: „Die Türken haben die EU erpresst – warum können wir nicht dasselbe tun?“ Es gehe dabei um Geld – und um politische Anerkennung.
2016 war der Dienst Sudans als EU-Türsteherstaat für den bis heute als Kriegsverbrecher verfolgten Diktator Omar al-Bashir ein Weg heraus aus der diplomatischen Ächtung. Auch für das Regime des ägyptischen Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi gehe es bei der Kooperation mit der EU heute darum, Legitimität daraus zu ziehen und sich als Stabilitätsfaktor zu inszenieren, sagt Tsourapas. Aus Angst vor Millionen Flüchtlingen aus Sudan und Gaza hat die EU 2024 ein mit 7,4 Milliarden Euro dotiertes „Partnerschaftsabkommen“ mit Ägypten geschlossen – die bisher höchste Summe für einen Migrationsdeal.
Doch, sagt Tsourapas, die Strategie, Staaten immer dann Geld zu geben, wenn dort gerade Geflüchtete unterwegs seien, sei heikel. Denn dann fehle das Geld für die Aufnahmeländer – und die würden nach Wegen suchen, sich weiter bezahlen zu lassen.
Ende Februar 2020 etwa kochte die Türkei künstlich einen Grenzkonflikt mit der EU hoch. Damals hielten sich fast vier Millionen Geflüchtete in dem Land auf. Aus Sicht der Türkei hatte die EU sich nicht an ihre Verpflichtungen des Deals von 2016 gehalten. Die Regierung ermutigte Menschen demonstrativ, in die EU zu ziehen. Der damalige Innenminister Süleyman Soylu twitterte: „Letztendlich werden sich alle auf den Weg nach Europa machen.“ Tsourapas sagt: „Präsident Erdoğan wollte die europäische Scheinheiligkeit bloßstellen. Das ist Symbolpolitik, Soft-Power.“
Empfohlener externer Inhalt
Diese Soft-Power aber strahlt in harte Auseinandersetzungen aus. Als Belarus 2021 Geflüchtete nach Polen ziehen ließ, sprachen der damalige Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) und die EU-Kommission von einer „hybriden Bedrohung“. Damit sind nicht-militärische staatliche Aggressionen gemeint, die einen bewaffneten Konflikt flankieren oder vorbereiten können. Indem die EU von „hybrider Bedrohung“ sprach, erklärte sie sich selbst als „getroffen“. Und ermöglichte damit überhaupt erst die Nutzung von flüchtenden Menschen als Angriffsmittel.
Die Politikwissenschaftlerin Kelly M. Greenhill forscht an der Tufts University in den USA. Sie sagt, es sei von „entscheidender Bedeutung, sich daran zu erinnern, dass die Ziele der strategisch gesteuerten Migration zwar meist Staaten und nichtstaatliche Gruppen sind, die wahren Opfer aber die Migranten oder Flüchtlinge sind“. Normen zum Schutz von Schutzsuchenden etwa würden erodieren. Und angesichts des „zunehmenden Widerwillens der Zielstaaten, ungebetene Personen aufzunehmen“, stiegen die Anreize, Migration strategisch auszunutzen.
Das neue EU-Asylsystem Geas sieht Sonderregeln für die „Instrumentalisierung“ Geflüchteter vor. Sie können in solchen Fällen etwa leichter inhaftiert und schneller abgeschoben werden. Vielen sicherheitspolitischen Thinktanks gilt als ausgemacht, dass Russland zum Beispiel mit Migrationsbewegungen und Desinformation über die Gewalttaten von Asylsuchenden die EU zu destabilisieren versucht.
Beim Nato-Gipfel 2022 sorgte der Gastgeber Spanien für die Verabschiedung eines neuen „strategischen Konzepts“. Darin ist die Rede von „bösartigen Angriffen“ durch „autoritäre Akteure“, die Migration instrumentalisierten. Russische Wagner-Söldner etwa könnten durch ihre Präsenz in der Sahel-Region größere Fluchtbewegungen auslösen und diese Richtung Marokko und Spanien leiten, warnte Spanien. Die Nato folgte.
Doch inwieweit strategische Vertreibungen überhaupt funktionieren, ist fraglich. Staaten können Grenzen öffnen oder die Aufnahmebedingungen künstlich verschlechtern und hoffen, dass Menschen aufbrechen. Söldnerarmeen können Unsicherheit erzeugen. Das macht es wahrscheinlicher, dass Menschen fliehen. Sicher ist es nicht. Entsprechend sei auch die Wirksamkeit der Migrationsdeals begrenzt, sagt Tsourapas. Seine Forschung habe ergeben, dass diese Vertreibungen langfristig nicht beeinflussen können. Sehr wohl aber würden sich in der Folge Migrationsrouten und -muster verändern. „Menschen warten, passen ihre Wege an, planen um. Migration ist elastisch und kaum zu kontrollieren.“
Das hindert eine wachsende Industrie nicht daran, mit dem Wunsch nach Kontrolle Milliarden zu verdienen. Das Transnational Institute (TNI) aus Amsterdam hat in mehreren Studien einen „grenzschutz-industriellen Komplex“ aus Rüstungs- und Sicherheitsfirmen wie Airbus, Lockheed Martin, Palantir und Thales beschrieben. Sie bieten Dienstleistungen zur Grenzüberwachung, Biometrie, Abschiebungen und Internierung an. Sie haben ein handfestes Interesse am Dauernotstand an den Grenzen – und betreiben entsprechend nachdrückliches Lobbying. 2025 werden laut Fortune Business Insights weltweit 58 Milliarden Dollar mit Grenzschutztechnologie umgesetzt, 2032 sollen es 96 Milliarden Euro sein.
Tsourapas sagt: „Auf lange Sicht ist das einzige, was hilft, dass Europa zu seiner früheren Sicht auf Migration zurückkehrt: zu einer weniger alarmistischen.“ In den vergangenen 20 Jahren hätten die Populisten die Innenpolitik zur Migrationspanik getrieben. „Das ermöglicht die Instrumentalisierung erst. Den Menschen wird Angst gemacht, dann sehen sie, dass die Deals es nicht bringen.“ Dann könnten neue Forderungen gestellt werden. „Und so geht es immer weiter.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatten um Religionsunterricht
Religiöse Bildung für alle
Migration neu denken
So könnte eine humane Fluchtpolitik aussehen
Klöckner setzt taz mit Nius gleich
Die taz hat News für Klöckner
Trump-Putin-Gipfel in Alaska
Zwei Reichsbürger unter sich
Europas Rolle nach Alaska-Gipfel
Sanktionen reichen nicht
CDU-Mann Altmaier zum Flüchtlingssommer
„Wir standen vor einer sehr, sehr schwierigen Situation“