Finnische Schriftstellerin Sofi Oksanen: „Frauen sind nicht immer Opfer“
Sofi Oksanen ist der Star der finnischen Literaturszene. Mit der taz spricht sie über ihren neuen Roman, Esten, Nazis, Sowjets – und die aktuelle russische Propaganda.
Sofi Oksanen lädt ein in ihr Lieblingscafé. Es liegt in einem alten Arbeiterviertel in Helsinki. Es gibt Kuchen. Mehrere Vogelbauer hängen im Raum, den Vogelgezwitscher, Tassenklappern, Gespräche erfüllen. Der Caféplüsch steht im Kontrast zum Aussehen und Auftreten von Sofi Oksanen. Mit ihrem schwarzen Post-Punk-Lederrock, dem langen Haarteil aus Dreadlocks, dem überschminkten, vollen Mund. Really gothic.
Sofi Oksanen landete mit ihrem Roman „Fegefeuer“ einen Welterfolg. Mit einer gewissen Aliida als Hauptfigur. Der neue Roman hat den Titel „Als die Tauben verschwanden“. Ihre neue Heldin heißt Judith. Was ist der mythologische Hintergrund?, frage ich Sofi Oksanen; zuerst auf Deutsch, dann auf Englisch. Sie unterbricht mich.
Sofi Oksanen: Ich bin froh, dass ich Deutsch passiv noch ganz gut verstehe. Also Judith ist eine der wenigen Heldinnen in der Bibel. Sie befreit ihre Nation von der Besatzungsmacht. Holofernes ist ein Bandenchef, der ihre Heimatstadt erobern will. Mit ihren Reizen und ihrem Geschick verführt sie den Bandenchef, kommt in sein Zelt, tötet ihn. Sie wird Königin ihres Volkes und bleibt es. Diese aktive Natur der Heldin reizte mich schon als Kind. Und dann wird „Judith“ heute als einer der ersten historischen Romane betrachtet. Und ich schreibe historische Romane.
Spielt das Estnische, das Archaische, das Bäuerliche eine ähnliche Rolle für Ihre Judith wie für Ihre Aliida im „Fegefeuer“-Roman?
Ich denke grundsätzlicher, dass die Esten ihre Frauen auf nordische Weise sehen. Die Frauen sind unabhängig, treffen Entscheidungen, und sie verdienen oft den Lebensunterhalt für ihre Familien. Wie in vielen bäuerlichen Gesellschaften sorgen sie sich um den Hof, sie ernähren die Familie und sie unterstützen diejenigen, die Widerstand gegen die Besatzungsmacht leisten. Für Estland waren das die Waldbrüder, die in den Wäldern Widerstandsgruppen gründeten. Diesen machtvollen, mythologischen Aspekt der estnischen Frauen unterstreichen die Esten gerne.
Aber Judith ist auch ein Opfer in Ihrem neuen Roman, während sie in der Bibel eine sehr aktive Heldin ist.
Ich kann dieses Wort „Opfer“ für meine Romane nicht ausstehen. Ich ziehe den Ausdruck „Überlebende“ vor. Klar sind sie Opfer, aber wenn man „Opfer“ sagt, unterstellt man gern „Opfer für immer“. Für den Rest des Lebens. Meine Frauen sind nicht immer Opfer, nur unter gewissen Lebensumständen. Für einen Tag, für eine Woche. Aber sie überleben. Deshalb will ich diesen Überlebenstrieb in ihrem Wesen herausstellen.
Ihr neuer Roman „Als die Tauben verschwanden“ spielt in Estland während der Besatzungszeit durch die Sowjets und später durch Nazi-Deutschland. Frau Oksanen, in diesem Roman haben die sowjetische und auch die nationalsozialistische Propaganda eine große Bedeutung. Worin besteht die Gemeinsamkeit?
Das Auslöschen der Menschlichkeit in den Angriffszielen und Subjekten: Das ist den Sicherheitsdiensten gemeinsam. Und auch das Auslöschen der Personen, die diese Berichte aufschreiben. Niemand wird zugeben: „Ich bin die Person, die den Befehl gegeben hat, jemanden zu töten, jemandem zu gehorchen.“ Nein, das Ziel, das Objekt, wie das Ziel im offiziellen KGB-Jargon heißt, das Objekt ist zu verfolgen. Zum Beispiel die Mittel der Postzensur sind anzuwenden. Es ist immer das Passiv, das angewendet wird. Auf diese Weise löschen sie die Personen aus, die dort arbeiten. Ich habe Jahre gebraucht, um die Strukturen des sowjetischen KGB als auch des deutschen SD, des nationalsozialistischen „Sicherheitsdienstes“, zu verstehen. Sie ähneln sich sehr, auch wenn sie ständig ihre Organisationsstruktur änderten. Für meinen Roman ist das Verstehen ihrer Methoden wichtig, weil eine meiner Hauptpersonen, Edgar, für beide Sicherheitsdienste arbeitet. Es war der mühselige Teil meiner Arbeit.
Buchmesse: Sofi Oksanen hält am Dienstag die Auftaktrede zur Frankfurter Buchmesse für den diesjährigen Ehrengast Finnland.
Werdegang: Geboren 1977 in Jyväskylä, Finnland. Vater finnischer, Mutter estnischer Herkunft. Studierte Literatur und Dramaturgie in Jyväskylä und Helsinki. Bezeichnet sich als Feministin.
Werk: 2003 ist in Finnland „Stalins Kühe“ erschienen. Thema: die Sowjetisierung Estlands, die Finnlandisierung der estnischen Migration, Essstörungen. 2007 folgten Theaterstück und Roman „Fegefeuer“, der internationale Durchbruch. Ihr neuer Roman „Als die Tauben verschwanden“ ist jetzt bei Kiepenheuer & Witsch erschienen. Er handelt von Menschen, die unter deutscher und sowjetischer Besatzung die Identität den jeweiligen Regimen anpassen.
Aber es gibt doch einen Unterschied in der Propaganda der Sowjets und der Nationalsozialisten?
Die Sowjets hatten für das gesamte Imperium Losungen bereit wie zum Beispiel: „Stalin wird euch ein gutes Schulsystem verschaffen.“ Die Esten aber hatten schon vorher eines, genauso wie die Ukrainer. Ein Plakat mit Väterchen Stalin, der den Esten das Lesen beibringt, ist lächerlich. In Russland jedoch gab es viele Analphabeten. Die Deutschen hatten für verschiedene Länder verschiedene Botschaften. In dieser Beziehung waren die Nazis raffinierter.
Wie hat die dann lange andauernde sowjetische Herrschaft die Esten verändert?
Sowjetrealität bedeutete, dass die Leute eine doppelte Identität ausbilden mussten. Sie mussten sich entscheiden, ob sie ihren Kindern die Wahrheit über die Wirklichkeit sagen wollten und sie so außer Haus zu Lügnern machen wollten; oder ob sie ihre Kinder zu Hause belügen sollten, damit sie außer Haus nicht lügen mussten. Die Sowjetunion produzierte eine öffentliche Erzählung, mit der sich die Esten nicht identifizieren konnten. Die Medien erschufen eine glückliche Nation im Schoß der Sowjetunion mit glücklichen Bauern im Wohlstand. Die Wirklichkeit sah ganz anders aus. Es gab aber kein geschriebenes Wort über die Verknappung von Gütern oder die aktuelle Wahrheit. Das hat Folgen für die heutige Forschung. In den sowjetisch okkupierten Ländern und in ganz Osteuropa ist die mündliche Überlieferung vertrauenswürdiger als jedes schriftliche Dokument.
Sie haben öfter Stellung genommen zu den aktuellen Problemen der Ukraine. Was ist Ihrer Meinung nach das Gemeinsame zwischen dem heutigen Auftreten Putins und der Ideologie der alten Sowjetunion?
Derzeit ist Stalin wieder oder immer noch ein populärer Held in Russland. Stalin glaubte an die Notwendigkeit einer zentralisierten Macht. Darum ist Stalin heute populärer als Lenin, sein Vorgänger, der widersprüchlicher war. Stalin wollte nichts delegieren. Darum mögen Putin und seine Architekten von „Neurussland“ Stalin so gerne. Sie benutzen dieselben Propagandamethoden, die sie seit Jahrzehnten und, wenn man den Zarismus dazunimmt, seit Jahrhunderten anwenden. Die Macht in Russland liegt bei Leuten, die dazu erzogen wurden, ihre Propaganda wie eine Kriegswaffe einzusetzen. Es sind Spezialisten für Bewusstseinskontrolle und Imagepflege. Wir können im Augenblick in den russischen Medien, in der russischen Propaganda allerdings auch Neues beobachten. Sie nehmen ihr altes Handwerkszeug, kombinieren es aber mit moderne Methoden und Spielgeräten. Sie haben Internet, haben ihre Internetsoldaten für den Cyberkrieg. Und auch ihre Fernsehpropaganda ist heute auf einem höheren Niveau als zu Sowjetzeiten. Aber bei allen modernen Werkzeugen, die ideologischen Leitlinien und Lehrbücher sind sich ähnlich geblieben.
Die russische Propaganda bezeichnet ihre Feinde häufig als „Faschisten“.
Ja, das Wort von den „Faschisten“ ist wohl das wichtigste Werkzeug in der russischen Propaganda. Das war auch eine der Schlüsselideen von Stalin: Man spricht nicht über den Zweiten Weltkrieg, sondern ausschließlich über den „Großen Vaterländischen Krieg“. Für die Russen existiert der Begriff „Zweiter Weltkrieg“ nicht. Es ist immer nur vom „Großen Vaterländischen Krieg“ die Rede, nie von den Juden, vom Holocaust, von Rassenverfolgung. Nur vom Leiden der russischen Menschen und der Verteidigung von Russland. Nie sprechen sie vom Nationalsozialismus. Das ist zu nahe an „Sozialismus“. Um die Nähe zu vermeiden, bezeichnen sie den Nationalsozialismus ausschließlich als Faschismus. „Faschismus“ war und ist das Wort der Wörter. Es steht für alle, die gegen das autoritäre Russland sind, in der Ukraine, überall. Homosexuelle, der Westen, alles Faschisten!
Und dieses entgrenzende Gerede vom Faschismus erlaubt es dann, sämtliche Mittel gegen die Gegner einzusetzen?
Genau, so ist es.
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