Finanzkrise in den USA: Cooper gegen die Investoren
Marshall Cooper hat in der Finanzkrise sein Haus verloren – wie Millionen andere. Hat US-Präsident Obama sie im Stich gelassen?
„Und jetzt hör genau zu, was ich erzähle“, sagt Cooper, der viele Sätze so einleitet, wenn er von seinem Leben redet. Im September 2016 sitzt er im ersten Stock seines Hauses in einem Zimmer mit Standuhr und Familienfotos an der Wand, schummrig ist es, weil die Fenster mit Protestplakaten gegen die Räumung seines Hauses verklebt sind. „Ich geh also zu der Lady und sag ihr: Nehmen Sie ihr Geld und gehen sie heim, kaufen sie ihren Kindern schöne Schuhe. Das ist mein Haus. Und ich geh nirgends hin.“
Die letzten zwei Sätze donnert er nur so heraus wie damals, als er die Lady und andere Investoren vertrieben hat. Sie standen direkt vor seinem Haus auf dem Gehsteig und wollten wettbieten. So läuft das in Boston, wenn Häuser zwangsversteigert werden: Die Bewohner verlieren nicht nur ihr Zuhause, sie müssen auch dabei zusehen, wie es verscherbelt wird.
Als Barack Obama 2008 in den Wahlkampf zieht, wütet die Häuserkrise bereits überall im Land. 2,6 Millionen Menschen verlieren ihren Job. Die Wirtschaft der USA bricht 2008 um 8,5 Prozent ein. Dem Land droht ein ökonomisches Chaos, die größte Wirtschaftskrise seit der Großen Depression 1929. Obama inszeniert sich im Wahlkampf als einer, der den Klüngel zwischen Finanzelite und Politik bekämpft, und schimpft über die Zocker an der Wall Street. Er verspricht, die Macht der Großbanken zu brechen.
Als er am 20. Januar 2009 am Fuß des Kapitols in Washington die Rede zu seiner Amtseinführung hält, räumt er politische Fehler in Washington ein, die zur Krise geführt hätten. „Häuser und Jobs sind verloren, Firmen verlassen“, sagte er. Es herrsche eine „nagende Angst, dass Amerikas Niedergang unausweichlich ist“.
Die Arbeitslosigkeit in den USA hat sich mittlerweile halbiert. Die Wirtschaft wächst um 2,4 Prozent im Jahr. Irgendetwas muss Barack Obama also richtig gemacht haben. Aber irgendwas ist auch verdammt schief gelaufen. Während seiner Amtszeit sind 6,5 Millionen Häuser zwangsversteigert worden. Eine direkte Folge der Krise im Jahr 2008, verursacht durch eine Immobilienblase. Mindestens 20 Millionen Menschen verloren ihr Zuhause.
Obamas historische Chance
Im Wahlkampf heute versucht Donald Trump, dieses Trauma auszunutzen. Wenn er Hillary Clinton als Agentin der Wall Street darstellt, dann zielt er auf die Bilder aus der Finanzkrise ab. Auf die Geschichten von Leuten wie Marshall Cooper in Boston und die Angst anderer Menschen davor, so etwas zu erleben.
Die Leute, die ihre Häuser verloren haben, verbrachten Obamas Amtszeit damit, einen Neustart hinzubekommen. Wenn man herausfinden will, wie die vergangenen acht Jahre Amerika verändert haben, kann ein Blick auf sie helfen. Was hat Obama für diese Menschen getan? Und was dafür, dass das, was ihnen passiert ist, nicht noch einmal geschehen kann?
Ganz zu Beginn, im Jahr 2009, hat Obama eine historische Chance. Prominente Politiker fordern damals, die Finanzriesen der Wall Street zu zerschlagen. Ed Mierzwinski, der Chef der Verbraucherschutzorganisation Pirg, nutzt das Bild Godzillas. Wie das Filmmonster hätten die Großbanken wie Goldman Sachs oder Citigroup die amerikanische Wirtschaft, die ganze Weltwirtschaft, verwüstet. Damals liegen sie wie angeschossene Godzillas am Boden. Die Großbank Lehman Brothers ist sogar schon tot, zusammengebrochen am 15. September 2008, dem Tag, der als Ausbruch der Krise in die Geschichte eingeht.
Obama aber entscheidet sich gegen den Todesstoß. Er will versuchen, den Godzillas einen Käfig zu bauen. So verspricht er es im Januar 2009:
„Wir können den Übeltätern der Wall Street nicht mehr erlauben, Lücken in unseren Regeln auszunutzen. Wir können Interessengruppen nicht mehr erlauben, den Daumen über unserer Wirtschaft zu senken. Wir können die skrupellose Kreditvergabe nicht mehr erlauben, die zu zerstörerischen Zyklen aus Blasen und Pleiten führt.“
Der beste Staat hat wenige Regeln
Ende September 2016 gibt es einen Ort, an dem sich Obamas Versprechen prüfen lässt. Die Elite der amerikanischen Finanzindustrie kommt zu ihrer Jahreskonferenz in Washington zusammen. Man trifft sich im Mayflower Hotel, das nicht weit weg vom Weißen Haus ist, was allerdings für ganz Washington gilt, schließlich ist die Stadt nicht allzu groß.
Der Name des Hotels steht für die Grundsätze, auf die sich die Finanzelite beruft. Mit der Mayflower segelten einst religiöse Siedler über den Atlantik, um den schändlichen europäischen Monarchen zu entkommen. Ein Haufen der Flüchtlinge verhungerte zwar oder starb an diversen Krankheiten, aber egal. Der Mythos seitdem lautet: Der beste Staat ist der, der so wenige Regeln wie möglich aufstellt.
Vor der Krise haben Großbanken unglaublich hohe Renditen ausgewiesen. Bis zu 33 Prozent ihres Eigenkapitals. Das konnte nur eine Blase sein. Im Jahr 2016 waren es bei den weltweiten Großbanken nur noch 6,7 Prozent.
Im Mayflower Hotel scheint es, als habe Obama geradezu überreagiert. All diese Gesetze auf einmal. Viele hier sagen, man müsse mal einen Schritt zurücktreten. Und vielleicht die eine oder andere Anpassung vornehmen. Nur nicht noch mehr von diesen Regeln. Henry Paulson kreuzt auch auf, unter Georg W. Bush Finanzminister, der ein Jahr vor der Krise sagte, das Problem mit den faulen Krediten sei „weitestgehend eingedämmt“. Heute sagt er: „Die USA sind die am besten regulierte Wirtschaft der Welt.“
Hat Obama also alles richtig gemacht?
Marshall Cooper, der Mann aus Boston, verfolgt 2008, wie Obama als erster Schwarzer die Vorwahlen der Demokraten gewinnt. Der Senator von Illinois könnte Coopers Präsident werden. Aber freuen kann sich Cooper darüber kaum. Das Jahr 2008 ist, offen gesagt, ein ziemlich beschissenes Jahr für ihn. Als sich Hillary Clinton am 7. Juni aus dem Rennen zurückzieht und Obama damit Kandidat wird, sitzt Cooper am Bett seiner schwer kranken Mutter. Er pflegt sie Tag und Nacht, und noch im selben Monat stirbt sie, mittellos. Weil der Hauskredit ihres Sohnes ihr Vermögen aufgefressen hat.
Mit der Axt gegen den Räumungsbescheid
Marshall Coopers ganzes Leben ist eingerahmt von Finanzkrisen. Als er 1935 in South Carolina geboren wird, wütet die Große Depression noch immer im Land. Der kleine Cooper ist der Sprössling einer Familie aus Baumwollpflückern, die als Lohnsklaven auf den Ländereien eines Großgrundbesitzers schuften. Marshall trägt Wasser auf die Felder, kaum, dass er laufen gelernt hat.
Aber die Zeiten ändern sich. Cooper wächst heran, zieht mit den Großeltern nach Boston, wo er erstmals mit weißen Kindern zur Schule geht. Er studiert – auf einem College ohne Weiße –, heiratet seine große Liebe, zieht mit ihr drei Kinder groß, lässt sich scheiden, heiratet erneut, zieht noch mal zwei Kinder groß, spart ein wenig fürs Alter, und als 2008 die nächste große Wirtschaftskrise kommt, da verliert er alles. Sein Erspartes und das seiner Eltern.
Es sind genau die Kredite, die Marshall Cooper angedreht wurden, die ursächlich sind für die Finanzkrise. Cooper lässt sich 1997 auf eine Finanzierung für sein Haus ein, die eigentlich nicht aufgehen kann. Aber der Immobilieninvestor versichert ihm, alles sei seriös gerechnet. Cooper leiht sich 163.000 Dollar zu 13 Prozent Zinsen, ein viel zu hoher Wert. Die Monatsrate beträgt 1.210 Dollar. Seine 34.500 Dollar Erspartes aus der Zeit, in der er einen Burgerladen hatte, soll er zum Tilgen einsetzen.
Er braucht das Haus, weil seine Eltern krank werden. Sie ziehen aus South Carolina zu ihm. Das bescheidene Vermögen seiner Eltern, für das sie ihr Leben lang hart gearbeitet haben, kommt also mit in den Topf für den Hauskauf. „Jetzt hör mir genau zu, was meine Mutter damals gesagt hat. Sie sagte: Junior, wir haben unsere Ersparnisse. Nimm das Geld, damit wir hier bleiben können“, sagt Cooper. Er ahnt damals noch nicht, dass etwas schief gehen könnte.
Cooper wird beim Erzählen ungeduldig, weil er noch seinen Garten zeigen will. Er steht auf und läuft die knarzende Treppe hinab. Unten steht eine Axt neben der Tür. Warum? Cooper grinst. Einmal kam ein Bote mit einem Räumungsbescheid einfach so in sein Haus spaziert, und Cooper dachte, es handle sich um einen Einbrecher. Nun ja, es ist nichts weiter passiert. Aber Cooper erklärte dem Boten, dass es auch durchaus zu einer Verwechslung hätte kommen können und er sich gegen Einbrecher mit der Axt zur Wehr zu setzen pflege. Es kam nie wieder jemand ungefragt ins Haus.
Cooper setzt sich auf den Stuhl auf seiner Veranda, von der aus er die Investoren mit erhobenem Gehstock vertrieben hat. Er zeigt auf den Garten, der vollgerümpelt ist mit Protestplakaten und Absperrbändern, mit Bildern des Besitzers der Firma, die ihm den Kredit damals angedreht hat. In den Bäumen hängen Plastikflaschen. So ein Tick von ihm, weil er sich in all den schweren Zeiten so leer wie diese Flaschen fühlte.
Skrupellose Kreditvergabe
Heute glaubt Cooper: Die Idee des Typen, der ihm den Kredit aufgeschwatzt hatte, sei von Beginn an gewesen, sein Erspartes und das seiner Eltern zu kassieren und ihn dann in die Insolvenz zu schicken. An Unterlagen lässt sich das heute nicht mehr prüfen – aber es gibt Millionen von Menschen, denen es in den USA so ergangen ist.
Das ist es, was Obama skrupellose Kreditvergabe nannte. Dem künftigen Präsidenten spielt die Finanzkrise im September 2008 in die Karten. Nach der Pleite von Lehman Brothers und der ersten Fernsehdebatte rutscht er in den Umfragen nach vorn. Obama wirkt souveräner, seine Worte in der Krise sind klarer.
Coopers Finanzen sind damals fast aufgezehrt, doch statt das Haus noch irgendwie zu verkaufen, empfiehlt ihm sein Immobilienberater, einfach umzuschulden. Besser gesagt, er droht ihm: Umschulden oder Pleite. Also zahlt Cooper noch höhere Zinsen, darf aber vorerst das Haus behalten. Die monatliche Rate schnellt auf 1.740 Dollar hoch.
Es sind diese Geschäfte, die zur Krise geführt haben: Subprime Loans, Kredite an Menschen mit schlechter Bonität. Menschen mit geringem Einkommen wird ein Immobilienkredit angedreht, den sie nicht zurückzahlen können. Die schlechten Kredite werden dann mit anderen, besseren Hauskrediten vermischt und als Paket weiterverkauft. Oder sie werden mit Kreditkartenschulden, Studentenkrediten, Autohypotheken und gewerblichen Immobilienkrediten gebündelt und weltweit gehandelt.
Solange die Immobilienpreise steigen, ist es damals egal, ob die Kredite abbezahlt werden. Es gibt ja immer einen Trottel, der die Pakete für einen noch höheren Preis kauft, ohne sich dafür zu interessieren, was darin steckt – weil der übernächste Trottel noch mehr zahlt. Cooper hat in der Zeit von 2006 bis 2008 ständig mit anderen Banken zu tun, die seine Raten eintreiben wollen. Manchmal bekommt er zwei Rechnungen von zwei Banken für dieselbe Rate, weil die Buchhaltungen der Kredithäuser nicht wissen, dass die Pakete schon weiterverkauft sind.
Solange die Musik spielt, muss man tanzen
Vor der Krise wussten eigentlich alle, dass das alles nicht gut gehen kann. Warum trotzdem alle mitmachten, das fasste Chuck Prince, damals Chef der Großbank Citigroup, schon vorher in einem mittlerweile berühmten Satz zusammen: „Wenn die Musik aufhört zu spielen, dann wird es kompliziert. Aber solange die Musik spielt, muss man aufstehen und tanzen.“
Die Musik stoppt mit dem Zusammenbruch von Lehman Brothers am 15. September 2008. Obama erbt ein gewaltiges Problem. Lehman droht die anderen Godzillas mit in den Abgrund zu reißen, wenn der Staat sie weiterrandalieren lässt. Lösen soll dieses Problem ein Mann, der heute sagt, in der Zeit von 2008 bis 2010 habe er so hart gearbeitet wie noch nie in seinem Leben. Barney Frank, damals Vorsitzender des Ausschusses für Finanzmarktregulierung im Repräsentantenhaus.
Frank lebt mittlerweile mit seinem Lebenspartner in einem gemütlichen Vorort von Boston, wo gelbe Schulbusse die Kinder einsammeln. Ein holzvertäfeltes Haus wie das von Marshall Cooper mit einer gepflegten kleinen Grünfläche davor. Frank sitzt im Wohnzimmer in einem Schaukelstuhl und füllt die Rätselseite der New York Timesaus. Er trägt eine dicke Brille und einen weißen Bart, sofort mahnt seine Assistentin zur Eile: Wahlkampf, Vorträge, Frank sitzt seit 2013 nicht mehr für die Demokraten im Kongress, hat aber einen übervollen Terminkalender.
Barney Frank legt die New York Times zur Seite. „Es war eine schreckliche Situation damals“, sagt er. „Wir hätten viel mehr für die Leute tun können.“ Aber das Problem war eben, dass Obama zwar schon gewählt, aber noch nicht im Amt war und sich George W. Bush gedanklich schon in Rente befand. Für Frank eine stressige Zeit.
„What the fuck“, schreit er am 24. September 2008 in sein Telefon. Er hat US-Finanzminister Henry Paulson am Apparat. Frank ist gerade dabei, ein in aller Eile zusammengeschustertes Nothilfeprogramm für die Banken durch den Kongress zu boxen. Der Finanzminister hat die Abgeordneten gebeten, unglaubliche 700 Milliarden Dollar dafür zu bewilligen. Sonst werde die US-Wirtschaft zusammenbrechen und damit die zivile Ordnung des Landes kollabieren, argumentiert er.
Und jetzt drohen ausgerechnet die Republikaner, deren Finanzminister Paulson die Idee hatte, nicht zuzustimmen. Frank schäumt. Der Mann ist für seine cholerischen Ausbrüche, seine treffenden Bonmots und sein brillantes Verhandlungsgeschick bekannt. Letzteres sollte ihn später zu dem Mann machen, der Obamas wichtigstes Gesetz zur Finanzmarktregulierung durchsetzt.
Den Kapitalismus kontrollieren
Obama ist im Jahr 2008 als Senator bereits vor seiner Amtseinführung in alle Entscheidungen eingebunden und hat die Rettungsaktion von Anfang an verteidigt. Nun lässt also Obama, der den Lobbyisten der Wall Street Einhalt gebieten will, 700 Milliarden an die Wall Street verteilen. Kein guter Start.
Obama setzt sich daraufhin zwei wirtschaftspolitische Ziele: ein gewaltiges Konjunkturpaket, Milliarden für Bildung, Infrastruktur und Energiewende. Wie damals Franklin D. Roosevelt, als er 1933 den New Deal verkündete.
Und ein Gesetz, das den Kapitalismus des 21. Jahrhunderts prägen und kontrollieren soll. Auch wie damals, 1933, als der Kongress unter Roosevelt ein Gesetz verabschiedete, das Geschäfts- und Investmentbanken strikt trennte. Das war eine Lehre aus der Großen Depression. Banken, die das Geld der normalen Bürger und handfester Unternehmen verwalteten, sollten damit nicht an den Finanzmärkten zocken. Erst 1999 schaffte die Regierung Clinton die letzten Reste davon ab und ließ die Wall Street endgültig von der Leine.
Im Frühjahr 2009 beginnt die Obama-Administration an einem Gesetz zu arbeiten, in enger Kooperation mit Barney Frank und dem Vorsitzenden des Bankenausschusses, Chris Dodd. Der Dodd-Frank Act.
Es ist die Zeit, in der die Demokraten noch die Mehrheit in beiden Kammern des Kongresses haben, in der Regieren möglich ist. Am 23. März 2010 unterzeichnet der Präsident ein Gesetz, das Millionen von Amerikanern Zugang zu einer Krankenversicherung ermöglicht – ObamaCare. Am 21. Juli 2010 unterzeichnet er das neue Gesetz zur Finanzmarktregulierung und zum Verbraucherschutz. Der Dodd-Frank Acthat 2.319 Seiten. Die Republikaner stimmten fast geschlossen dagegen.
Die Finanzlobbyisten arbeiten gegen das Gesetz
Aber trotz der Unterschrift Obamas ist das Ringen um das Gesetz noch nicht vorbei. Obgleich von enormem Umfang ist der Dodd-Frank Act nur ein grobes Gerüst. Jede Seite muss von diversen Behörden in detaillierte Regularien übersetzt werden. Jede davon kann von Interessengruppen kommentiert werden, Details bewegen Milliarden. Seit 2010 tobt also ein Kampf um die Details. In Washington sitzen fast 1.600 Lobbyisten der Finanzindustrie. Was wird von der Intention des Regelwerks am Ende noch übrig bleiben?
Als Barney Frank 2010 um sein Gesetz kämpft, sind die Raten von Marshall Coopers Haus auf 2.291 Dollar im Monat gestiegen, fast doppelt so viel wie zu Beginn. Cooper kann nicht mehr zahlen, das Haus gehört ihm nicht mehr.
Aber aufzugeben, das ist nicht Coopers Ding. Er war schon Stahlarbeiter, er weiß, was es heißt, sich anzustrengen. Im Jahr 1956 hat er sich als Mittelstreckenläufer sogar um ein Haar für die Olympischen Spiele qualifiziert.
Im Fernsehen hört Cooper von einer Organisation, die Leuten wie ihm hilft. Und an einem kalten Abend Anfang 2010 betritt er eine Kirche im Osten Bostons. Es gibt labbrige Sandwiches, ein Haufen Leute, denen es so geht wie ihm, und Anwälte der Eliteuniversität Harvard. Cooper entdeckt die Kraft seiner lauten Stimme und die des Rechts. „Ich habe gemerkt, dass ich mich nicht schämen muss“, sagt Cooper.
Die Anwälte schreiben ihm mit dickem Edding auf einen Flipchart, wie er vorgehen muss. Die Seiten hängen heute noch in seinem Haus: Erst mal die Investoren vertreiben, dann geht das Haus zurück an die Bank. Dann das Bauamt rufen und jeden erdenklichen Mangel im Haus anzeigen. Falls die Liste lang genug ist, dann wird das Objekt in bester Wohnlage zur Schrottimmobilie. Mit einem alten Kauz drin, der sich eher erschießen lässt als auszuziehen. Keine gute Aussicht für Investoren.
Nur die Hälfte zwangsgeräumt
Die Regierung Obama hat zu dem Zeitpunkt bereits eine ganze Reihe an Hilfsprogrammen aufgelegt, um Leuten zu helfen, die ihre Kredite nicht zahlen können. Es trifft ja nicht nur Menschen wie Cooper, deren Finanzierung von Anfang an nicht funktionieren konnte. Die Mittelschicht verliert ihre Häuser. In Städten wie Tampa, Florida, sind zwischenzeitlich tausende Familien ohne Obdach. Sie schlafen in ihren Wagen auf den großen Parkplätzen der Shoppingmalls. Acht Millionen Menschen hatten in der Krise ihren Job verloren.
Obama antwortet mit Programmen mit Namen wie Hafa, Hamp, Haup oder Harp – dem Programm, mit dem Hauskredite so umgeschuldet werden sollten, dass die Raten wieder bezahlbar sind. Es läuft bis heute. Ohne die Programme wäre es noch viel schlimmer gekommen. Zwischenzeitlich drohte in den USA Familien in elf Millionen Häusern die Zwangsräumung – bis heute traf es nur rund die Hälfte.
Aber noch bis jetzt, kurz vor der Wahl zwischen Hillary Clinton und Donald Trump, wird um die Nachverhandlung von Barney Franks Gesetz gerungen. Aus 2.319 Seiten sind jetzt 22.000 geworden. Obamas finanzpolitisches Vermächtnis.
Banken müssen heute mehr Reserven für Notzeiten vorhalten, diverse Finanzprodukte, die zum Ausbruch der Krise beigetragen haben, sind abgeschafft oder werden schärfer überwacht. Geschäftsbanken müssen sich aus bestimmten riskanten Investmentgeschäften zurückziehen. Es gibt eine neue Behörde zum Verbraucherschutz, die selbst ermitteln darf – und einschreiten kann, wenn an Menschen wie Marshall Cooper heute betrügerische Kredite vergeben werden.
Teufelskreis Deregulierung
Trotzdem schimpft Barney Frank in seinem Wohnzimmer in Boston. Was ihn besonders ärgert ist, dass die meisten Amerikaner glauben, Obama habe den Banken 700 Milliarden Dollar geschenkt. „Das war kein Geschenk. Wir haben ihnen Geld geliehen. Und sie haben es zurückgezahlt. Komplett, mit Zinsen“, sagt er. Ohne das Programm wäre die Wirtschaft kollabiert, sagt Frank. Die Einzigen, denen so ein Zusammenbruch nichts ausgemacht hätte, wären die Bankmanager gewesen. „Die wären eben raus in ihre Villa zum Angeln gefahren.“
Tatsächlich hat die US-Regierung einen Großteil des Geldes verwendet, um Banken toxische Wertpapiere abzukaufen, die sie während der Krise sonst als Verlust hätten verbuchen müssen – was viele Großbanken in den Ruin getrieben hätte. Später hat die Regierung die Papiere wieder verkauft, ebenso wie die Anteile an Banken und Autoherstellern. Am Ende stand ein Minus von 30 Milliarden Dollar – weniger als ein Prozent des Jahresbudgets der US-Regierung.
„Es ist frustrierend“, sagt Frank, „die Deregulierung der Finanzmärkte hat die Krise verursacht. Wir mussten Milliarden in die Hand nehmen, um das Land zu retten, und jetzt werden wir dafür verantwortlich gemacht.“ Und dann komme der Teufelskreis: Die Leute meinen, die Regierung handele unverantwortlich, also wählen sie Leute, die die Regierung hassen. „Was glauben Sie, was dann passiert? Die kommen an die Macht und deregulieren wieder alles.“
Frank putzt zwischendurch seine Brille und redet so schnell, dass man kaum mit der nächsten Frage hinterherkommt. Er glaubt, dass diese Kombination maßgeblich zum Aufstieg von Donald Trump beigetragen hat: Die Leute verlieren ihre Häuser und werden in dem Glauben gelassen, nur die Banken hätten Geld bekommen. Dabei hätten gerade die abgehängten weißen Männer, die maßgeblich Trump wählen, am meisten von den Sozialprogrammen der Regierung profitiert.
Vielleicht liegt das Unverständnis auch daran, dass dieselben Banken mit den oft selben Managern immer noch da sind. Dass viele Amerikaner neue Jobs haben, die schlechter bezahlt sind. Darauf zielt Donald Trump ab, wenn er den Niedergang des Landes heraufbeschwört.
Welche Krise wird die nächste sein?
Nie wieder soll die Wall Street Menschen in eine solche Krise stürzen – hat Obama dieses Versprechen nun gehalten?
Es gibt dazu einen Satz, der immer wieder fällt. Barney Frank sagt ihn in seinem Wohnzimmer in Boston. Und Henry Paulson, der ehemalige Finanzminister, sagt ihn im Mayflower Hotel in Washington: The generals always fight the last war. Die Generäle kämpfen immer den Krieg von gestern. Sinngemäß übersetzt heißt das, die Ursachen der letzten Krise sind analysiert und werden bekämpft. Aber keiner schaut genau genug auf die nächsten Gefahren.
Der Krieg von gestern war die Immobilienblase. Der Krieg von morgen ist die Krise des Kapitalismus: Notenbanken erhalten den Geldfluss nur aufrecht, indem sie extrem niedrige oder gar negative Zinsen ansetzen – wer Geld nicht ausgibt, der verliert es. „Wirtschaftspolitik, die immer funktioniert hat, versagt“, sagt Paulson. Vielleicht stecken die Godzillas heute in einem Käfig, aber was bringt das, wenn der Zoo am Ende ist?
Vor der Wahl am Dienstag versuchen die Kandidaten, klare Fronten zu ziehen. Hillary Clinton kündigt an, der Tradition von Barack Obama zu folgen und alles, was den Dodd-Frank Act abschwächt, zu verhindern. Sie will härtere Regeln. Donald Trump sendet unterschiedliche Signale: Einmal sagt er, er wolle Dodd-Frank abschaffen. Dann fordert er, das Gesetz zur Trennung von Banken und Investmentbanken von 1933 wiederzubeleben. Eigentlich ein Anliegen linker Demokraten.
Das ist eine Ironie der Amtszeit von Barack Obama. Der Präsident, der die Vereinigten Staaten durch die größte Wirtschaftskrise seit 75 Jahren führen musste und das Land versöhnen wollte, schafft es am Ende, dass zwei Lager, die sich verabscheuen, wirtschaftspolitisch ähnliche Forderungen haben: linke Demokraten und rechte Trump-Anhänger.
Cooper darf bleiben
Für Barney Frank steht nach acht Jahren Obama eines fest: „Der Glaube an das freie Unternehmertum und das Vertrauen in die Märkte haben 2008 einen großen Schlag erlitten. Der Marktfundamentalismus hat den Crash nicht überlebt.“
Eine gute Nachricht, oder?
„Absolut“, sagt er. „Aber bis heute wissen die Leute nicht, wie sie damit umgehen sollen.“
Marshall Cooper hat es sich zur Angewohnheit gemacht, bei jeder Gelegenheit mit seinem Gehstock zu Leuten zu humpeln, die in Boston aus ihren Häusern fliegen. Der neueste Trend ist, dass Investoren Häuser aufkaufen und die Mieter vertreiben – oft Migranten, die ihre Rechte nicht kennen. Dann unterteilen die neuen Eigner die Häuser in kleine Wohnungen und vermieten jede einzelne so teuer wie vorher das halbe Gebäude.
Aber manchmal scheitern sie auch, weil Cooper und andere Aktivisten vor der Tür stehen und mit den Mietern ziemlich laut brüllen: „Wir gehen nirgends hin.“
Marshall Cooper hat sein gesamtes Vermögen und das seiner Eltern verloren. Aber das Haus haben die Investoren auch nicht bekommen. Ende September 2016 bekommt er einen Brief, dass es nun offiziell einer Wohlfahrtsorganisation gehört. Die Strategie, die ihm die Anwälte auf seinen Flipchart geschrieben hatten, ging auf. Cooper hat erst die Investoren vertrieben und dann der Bank so oft das Bauamt auf den Hals gehetzt, dass die froh waren, das Haus billig zu verkaufen.
Jetzt darf er bleiben, kann weiter auf der Veranda mit dem Schaukelstuhl sitzen. Er darf hier leben, aber das Haus ist nicht mehr seines. Marshall Cooper ist jetzt Mieter.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen