Finanzierung gesetzlicher Krankenkassen: „Gerechtigkeitslücke“ im System

Der Finanzierungsschlüssel setzt falsche Anreize für die Krankenkassen, zeigt eine Studie. Vulnerable Personen sind als Versicherte unattraktiv.

Ein Mann mit brauner Hose und einer Beinmanschette geht an Krücken

Beinmanschette und Krücken: Kassenleistung Foto: Michael Gstettenbauer/imago

BERLIN taz | Die gesetzlichen Krankenkassen erhalten zu wenig Geld für besonders vulnerable Versichertengruppen, zeigt eine neue Studie der Uni Duisburg-Essen. Weil die Zuweisungen die Kosten etwa für Pflegebedürftige oder Hartz-IV-Beziehende nicht decken, haben die Kassen Anreiz, jüngere und gesunde Versicherte vorzuziehen. Jens Martin Hoyer, Vizevorstand der AOK, der die Studie in Auftrag gegeben hat, sprach von einer „Gerechtigkeitslücke“.

Das Problem: Die Kassen erhalten das Geld, mit dem sie die Behandlung ihrer Versicherten bezahlen, aus dem Gesundheitsfonds, in den alle Versicherten einzahlen und auch der Staat noch Steuergeld gibt. Wie viel die Kassen dann aus dem Fond für ihre Versicherten bekommen, wird durch den Risikostrukturausgleich (RSA) bestimmt.

Indem hierbei Alter, Geschlecht, Wohnort und Krankheitslast der Versicherten berücksichtigt werden, soll sichergestellt werden, dass es für die Kassen finanziell keinen Unterschied macht, wen sie versichern. Für alte Menschen, die oft krank werden, bekommen die Kassen so etwa mehr Geld als für junge, die seltener krank sind und deshalb auch weniger Kosten verursachen. Es geht also nicht darum, wie viel Geld im Gesundheitsfond insgesamt ist und ob das Geld ausreicht, sondern darum, nach welchem Schlüssel das verteilt wird, was da ist.

Die neue Studie identifiziert nun als Problem, dass im RSA nicht berücksichtigt wird, ob Versicherte pflegebedürftig sind, Hartz IV erhalten, Erwerbsminderungsrente beziehen oder als Härtefälle gelten. Auch diese Versicherten werden im Schnitt öfter krank, die dadurch höheren Kosten werden den Kassen aber eben nicht ausgeglichen.

Das System steht finanziell unter Druck

Bei den Pflegebedürftigen werden den Kassen so nur 86,2 Prozent der im Schnitt entstehenden Kosten ausgeglichen, durchschnittlich 1.685 Euro zu wenig. Bei Er­werbs­min­de­rungs­rent­ne­r*in­nen sind es 829 Euro und bei Hartz-IV-Beziehenden 123 Euro. „Das setzt Fehlanreize für die Versorgung“, so Studienautor Jürgen Wasem.

Die gesundheitspolitische Sprecherin der Linkenfraktion im Bundestag, Kathrin Vogler, sagte der taz: „Wenn es stimmt, dass die aktuellen Regelungen noch immer Kassen bevorteilen, die überwiegend jüngere, finanziell besser gestellte Menschen versichern, dann sollte die Bundesregierung dringend handeln.“

Die Ampel müsse dem Wissenschaftlichen Beirat zur Weiterentwicklung des RSA die nötigen Kompetenzen geben, um eine Lösung für das Problem zu finden. Ziel müsse es sein, „dass gesetzliche Krankenkassen, die sich um besonders gesundheitlich benachteiligte Menschen kümmern, davon zumindest keine Nachteile haben“.

Die in der neuen Studie identifizierten Probleme sind unabhängig von jüngsten Debatten um höhere Beitragssätze. Das System der gesetzlichen Krankenkassen steht finanziell unter Druck. Für 2023 wird ein Minus von 17 Milliarden Euro erwartet. Um das Loch zu stopfen, hat die Bundesregierung eine Beitragserhöhung und eine Extraabgabe für die Pharmaindustrie beschlossen. Das Gesetz wurde am 20. Oktober im Bundestag verabschiedet.

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