Finanzierung gesetzlicher Krankenkassen: „Gerechtigkeitslücke“ im System
Der Finanzierungsschlüssel setzt falsche Anreize für die Krankenkassen, zeigt eine Studie. Vulnerable Personen sind als Versicherte unattraktiv.
Das Problem: Die Kassen erhalten das Geld, mit dem sie die Behandlung ihrer Versicherten bezahlen, aus dem Gesundheitsfonds, in den alle Versicherten einzahlen und auch der Staat noch Steuergeld gibt. Wie viel die Kassen dann aus dem Fond für ihre Versicherten bekommen, wird durch den Risikostrukturausgleich (RSA) bestimmt.
Indem hierbei Alter, Geschlecht, Wohnort und Krankheitslast der Versicherten berücksichtigt werden, soll sichergestellt werden, dass es für die Kassen finanziell keinen Unterschied macht, wen sie versichern. Für alte Menschen, die oft krank werden, bekommen die Kassen so etwa mehr Geld als für junge, die seltener krank sind und deshalb auch weniger Kosten verursachen. Es geht also nicht darum, wie viel Geld im Gesundheitsfond insgesamt ist und ob das Geld ausreicht, sondern darum, nach welchem Schlüssel das verteilt wird, was da ist.
Die neue Studie identifiziert nun als Problem, dass im RSA nicht berücksichtigt wird, ob Versicherte pflegebedürftig sind, Hartz IV erhalten, Erwerbsminderungsrente beziehen oder als Härtefälle gelten. Auch diese Versicherten werden im Schnitt öfter krank, die dadurch höheren Kosten werden den Kassen aber eben nicht ausgeglichen.
Das System steht finanziell unter Druck
Bei den Pflegebedürftigen werden den Kassen so nur 86,2 Prozent der im Schnitt entstehenden Kosten ausgeglichen, durchschnittlich 1.685 Euro zu wenig. Bei Erwerbsminderungsrentner*innen sind es 829 Euro und bei Hartz-IV-Beziehenden 123 Euro. „Das setzt Fehlanreize für die Versorgung“, so Studienautor Jürgen Wasem.
Die gesundheitspolitische Sprecherin der Linkenfraktion im Bundestag, Kathrin Vogler, sagte der taz: „Wenn es stimmt, dass die aktuellen Regelungen noch immer Kassen bevorteilen, die überwiegend jüngere, finanziell besser gestellte Menschen versichern, dann sollte die Bundesregierung dringend handeln.“
Die Ampel müsse dem Wissenschaftlichen Beirat zur Weiterentwicklung des RSA die nötigen Kompetenzen geben, um eine Lösung für das Problem zu finden. Ziel müsse es sein, „dass gesetzliche Krankenkassen, die sich um besonders gesundheitlich benachteiligte Menschen kümmern, davon zumindest keine Nachteile haben“.
Die in der neuen Studie identifizierten Probleme sind unabhängig von jüngsten Debatten um höhere Beitragssätze. Das System der gesetzlichen Krankenkassen steht finanziell unter Druck. Für 2023 wird ein Minus von 17 Milliarden Euro erwartet. Um das Loch zu stopfen, hat die Bundesregierung eine Beitragserhöhung und eine Extraabgabe für die Pharmaindustrie beschlossen. Das Gesetz wurde am 20. Oktober im Bundestag verabschiedet.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Polarisierung im Wahlkampf
„Gut“ und „böse“ sind frei erfunden
Werben um Wechselwähler*innen
Grüne entdecken Gefahr von Links
Streit um tote Geiseln in Israel
Alle haben versagt
Soziologische Wahlforschung
Wie schwarz werden die grünen Milieus?
Wahlverhalten junger Menschen
Misstrauensvotum gegen die Alten
Donald Trump zu Ukraine
Trump bezeichnet Selenskyj als Diktator