Filmkritikertagung in Berlin: Von sozialen Ungleichheiten erzählen
Der Verband der Deutschen Filmkritik richtet seine „Woche der Kritik“ erneut zur Berlinale aus. Beim Auftaktevent widmet er sich der Klassenfrage im Film.
![Fünf Leute in bunten T-Shirts stehen nebeneinander Fünf Leute in bunten T-Shirts stehen nebeneinander](https://taz.de/picture/7526918/14/COMPASSION-AND-INCONVENIENCE-Vika-Kirchenbauer-2024-video-30min-Vika-Kirchenbauer-VG-Bild-Kunst-4-1.jpeg)
In Zeiten knapper Kassen, Kürzungen der Kulturförderung und genereller gesellschaftlicher und politischer Unruhe stellt sich auch für die Filmkritik die Sinnfrage. Insofern passt es, dass die vom Verband der Deutschen Filmkritik ausgerichtete Woche der Kritik, die in diesem Jahr zum 8. Mal parallel zur Berlinale stattfindet, sich der Frage widmet, inwiefern das Kino die Vielfalt der Gesellschaft spiegelt und auch ansonsten marginalisierten Stimmen Gehör verschafft.
Denn nicht nur im Kino gilt meist, wie es im Veranstaltungstext treffend formuliert heißt: „Die soziale und ökonomische Herkunft bestimmt heute immer noch die gesellschaftlichen Erfolgschancen.“ Auf wenige Bereiche der Kultur trifft diese Feststellung so sehr zu wie auf das Kino, das gerade in Deutschland weitestgehend frei von wirtschaftlichen Kriterien funktioniert und ohne massive Subventionen und Förderprogramme praktisch nicht existieren würde.
Dementsprechend beschäftigte sich die traditionelle Auftaktkonferenz der Woche der Kritik mit dem Thema „Zurück zur Klassenfrage – Filmkultur und soziale Ungleichheit“, eine Frage, die in einem Filmprogramm am 14. Februar vertieft wird. Von den sogenannten sozial Schwachen und Marginalisierten erzählt das Kino gern, gibt genau diesen Menschen aber nur selten die Chance, selbst von und über sich zu erzählen. Stattdessen sind es oft Filmemacher aus bürgerlichen Schichten, die nach unten schauen und sich mit oft kaum verhohlener Faszination im Elend suhlen.
Als „Slumming“ oder „Miseryporn“ wird dies in Momenten der Selbstreflexion bisweilen bezeichnet, und genau das ist Thema des Kurzfilmklassikers „The Vampires of Poverty.“ Der 1977 in Kolumbien gedrehte Film von Luis Ospina und Carlos Mayolo beschreibt in Form einer Mockumentary, einer inszenierten Dokumentation, wie ein europäisches Dokumentarfilmteam in einer südamerikanischen Stadt betont reißerische Szenen der Armut und des Elends finden will und diese in Ermangelung echter Bilder auch gern einfach inszeniert. Eine pointierte Darstellung eines Problems, dass auch heute noch existiert und angesichts der Entwicklung der Debatte vielleicht sogar noch aktueller geworden ist.
Bis 20. 2., Programm unter wochederkritik.de
Im Zuge der Diskussion über Fragen der Repräsentation wird von manchen behauptet, dass nur Vertreter einer bestimmten, meist marginalisierten Gruppe über diese Gruppe erzählen dürfen. Was in letzter Konsequenz bedeuten würde, dass nur ein Mensch, der aus einer sozial schwachen Schicht stammt, einen Film über ebendiese Schicht drehen dürfte. Was angesichts der sehr geringen Durchlässigkeit des Kulturbetriebs und besonders der Filmbranche bedeuten würde, dass praktisch keine Filme über diese sozial schwache Schicht gedreht werden dürften. Eine absurde Konsequenz, denn letztlich hängt die Qualität eines Films nicht davon ab, ob die Filmemacher exakt aus der Schicht kommen, über die sie Filme drehen, sondern mit welcher Empathie und Wahrnehmung sie ihren Film gestalten.
Etwa der Italiener Adriano Valerio, der in seinem hybriden Dokudrama „Casablanca“ von einem Migranten aus Marokko erzählt, der seit Jahren ohne Aufenthaltsgenehmigung in Italien lebt und sich trotz einer Beziehung zu einer aus der Oberschicht stammenden Frau für die Ausreise entscheidet. Auf der Grenze zwischen Spielfilm und Dokumentation bewegt sich Valerio, filmt seine Protagonisten mit einer gewissen Distanz und viel Würde.
Einen anderen Ansatz wählt die in Berlin lebende Künstlerin Vika Kirchenbauer in ihrem komplexen Essayfilm „Compassion and Inconvenience“, der der Frage nachgeht, welche Zusammenhänge es im 18. Jahrhundert zwischen Kunst, Waisenkindern und Sklavenhaltung gab. Marginalisierte Stimmen kommen zu Wort, auch hier entsteht die Spannung durch ein Nebeneinander von inszenierten und dokumentarischen Momenten, die sich zu einem augenöffnenden Blick auf ein ungewöhnliches Thema formen
Kulturförderung, deren Intention nicht in erster Linie daran lag, Kultur zu fördern: Ein besonders zeitgemäßer Aspekt, da von manchen Seiten die Forderung laut wird, dass Kulturinstitutionen sich verstärkt um Sponsoring bemühen sollten, um nicht dem Steuerzahler auf der Tasche zu liegen, sondern sich selbst zu finanzieren. Sollte dieser Ansatz Schule machen, könnte gerade das deutsche Kino Probleme bekommen, findet ein Großteil der deutschen Filmproduktion doch unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.
Die zahlenden Kinozuschauer für deutsche Filme sind meist marginal, allein Filmfestivals bieten eine Plattform zum Abspiel der subventionierten Filme, die allerdings den wenigen ohne Filmförderung entstandenen Filmen meist auch verschlossen bleibt. Denn auch der Festivalbetrieb ist durchzogen von freundschaftlichen Banden, Vitamin B hilft, wenn man mit seinem Film eingeladen werden will.
Auch die Woche der Kritik ist davon nicht frei, wie der in einer Sondervorführung präsentierte „All We Ever Wanted“ zeigt, der Debütfilm des ehemaligen Filmkritikers und Mitbegründer der Woche der Kritik, Frédéric Jaeger. Vielleicht eine selbstironische Programmierung, vielleicht aber auch nur Betriebsblindheit, schließlich ist es leichter, über fraglos wichtige Fragen wie die Durchlässigkeit des Kulturbetriebs zu diskutieren, als selbst etwas an den festgefahrenen Strukturen zu ändern.
Die Woche der Kritik versucht sich einmal mehr an einem Spagat: Ambitionierte, auf den ersten Blick nicht unbedingt leicht zugängliche Filmprogramme, gefolgt von Diskussion zu komplexen Fragen. Wie sehr das einlädt, Teil des intellektuellen Elfenbeinturms zu werden, darüber könnte man auch ausgiebig diskutieren.
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