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Filmfestspiele in Cannes 2023Im Beet nebenan blüht der Phlox

Ein Holocaustfilm ohne Holocaust und gärende Konflikte in der türkischen Provinz: „The Zone of Interest“ und „Kuru Otlar Üstüne“ sind beides Highlights.

Schülerin Sevim aus Nuri Bilge Ceylans Cannes-Beitrag „Kuru Otlar Üstüne“ Foto: Festival de Cannes

Menschen an einem Badesee, die Frauen in Kleidern, die Männer mit scharf wegrasierten Schläfen. Später geht es nach Hause, man wohnt in einem großzügigen Haus mit Garten. Dort erwartet den Hausherrn am nächsten Morgen als Geburtstagsüberraschung ein Ruderboot.

In Jonathan Glazers Spielfilm „The Zone of Interest“, der bei den Filmfestspielen von Cannes im Wettbewerb läuft, bleibt anfangs sehr in der Schwebe, wo und wann er spielt. Ein Perspektivwechsel der Kamera lässt abrupt eine Mauer am Ende des Hausgrundstücks erkennen, man ahnt, dass dahinter ein KZ beginnt.

„Interessengebiet“ war im Nationalsozialismus die Bezeichnung für das Sperrgebiet des Lagerkomplexes Auschwitz. Den Ausdruck wählte der am Freitag verstorbene britische Schriftsteller Martin Amis ebenfalls für seinen Roman von 2014, „The Zone of Interest“. Glazers Film beruht auf Amis’ Vorlage, doch während die Protagonisten dort fiktionalisiert sind, heißen die Figuren im Film wie die realen Personen.

So gibt es den Lagerkommandanten Rudolf Höß (Christian Friedel), seine Frau Hedwig (Sandra Hüller) oder den SS-Obergruppenführer Oswald Pohl. Das „Interessengebiet“ bleibt den ganzen Film über unsichtbar, zugleich bestimmt es das Geschehen permanent. Etwa wenn Hedwig Höß eine Lieferung mit Kleidung erhält und sie unter ihrem Hauspersonal verteilt.

Die Familie geht ansonsten ihrem Alltag nach, die Kinder spielen im großzügigen Garten, Rosen und Phlox blühen in den Beeten, Hedwig Höß sinniert beim Besuch ihrer Mutter darüber, dass sie Ranken an der Lagermauer pflanzen möchte, „damit das etwas zuwächst“.

Gute Aussicht auf einen Hauptpreis

„The Zone of Interest“, Glazers erste neue Kinoarbeit seit seinem Science-Fiction-Film „Under the Skin“ von 2013, ist ein auf kalte Weise böser Film. Das Grauen, von dem er erzählt, drängt im vermeintlich normalen Leben der Familie Höß nie ganz an die Oberfläche. Es wirkt dadurch bloß noch erschreckender. In distanzierten Einstellungen gefilmt, kommt man seinen Figuren nie zu nah. Man will es auch nicht.

Mit der sperrig-spukhaften Musik von Mica Levi gewinnt der Film zudem eine weitere Ebene, auf der die in den Dialogen allenfalls als logistische Fragen erwähnten Verbrechen des Holocaust ihre Realität einfordern. Ein erster Höhepunkt mit guten Aussichten auf einen der Hauptpreise.

Noch ein Höhepunkt des Festivals ist Nuri Bilge Ceylans knapp dreieinhalbstündiger „Kuru Otlar Üstüne“ (Übersetzt: Über getrocknete Gräser). Der türkische Regisseur ist regelmäßig im Wettbewerb von Cannes vertreten, für „Winterschlaf“ gewann er 2014 die Goldene Palme, zuletzt war er 2018 mit „Der wilde Birnbaum“ zu Gast. In dem für ihn typischen langsamen Stil erzählt Ceylan von Samet (Deniz Celiloğlu), einem Lehrer in der türkischen Provinz, der dort eine Pflichtstation absolviert. Er sieht sich, ohne zu verstehen, warum, eines Tages mit Vorwürfen der Belästigung von Schülerinnen konfrontiert.

Aus diesem Stoff macht Ceylan kein eskalierendes Drama, sondern spielt in langen Dialogen und mit noch mehr angedeutetem Unausgesprochenen durch, wie derlei Konflikte im Stillen erledigt werden und dennoch weiterschwelen.

Auch die Bekanntschaft mit der Lehrerin Nuray (Merve Dizdar) und die sich anbahnende Konkurrenz zwischen Samet und seinem Kollegen Kevan (Musab Ekici), der sich gleichfalls an Nuray interessiert zeigt, entwickelt Ceylan in ruhigen Dialogen, die mitunter politische Fragen streifen, ohne allzu explizit zu geraten. In langen, grandiosen Einstellungen gefilmt, ist dies der bisher poetischste Beitrag im Wettbewerb. Und der eindringlichste.

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