Filmemacher Steyerl und Radynski: „Eher ein fraktaler Kolonialismus“
Hito Steyerl und Oleksiy Radynski über Verstrickungen russisch-deutscher Gasgeschäfte und ihr Kunstprojekt „LEAK. Das Ende der Pipeline“ in Leipzig.
taz: Oleksiy Radynski, wieso interessieren Sie sich als Künstler aus der Ukraine für die Gasgeschäfte zwischen Deutschland und der russischen Föderation?
Jahrgang 1984, ist Filmemacher und Autor in Kyjiw. 2023 gewann sein Film „Chornobyl 22“ den Großen Preis bei den Internationalen Kurzfilmtagen Oberhausen.
Oleksiy Radynski: Manchmal schaue ich ungläubig auf die immense Korruption durch russische Oligarchen und Lobbyisten für fossile Brennstoffe, die lange in Deutschland stattgefunden hat. Sie nahm unheimliche Formen an, als 2014 die ukrainische Krim von der russischen Armee besetzt wurde. Die Welt schien beschlossen zu haben, das zu akzeptieren. Nord Stream 2 manifestierte diese Okay-Haltung. Das Pipeline-Projekt begann erst 2015, ein Jahr nach der Krimannexion. Das wirkte wie ein Zeichen, dass Putin die Ukraine einfach nehmen kann, solange das Gas strömt. Die historische Gastransitinfrastruktur in der Ukraine wurde durch Nord Stream 2 überflüssig. Bei der erneuten russischen Invasion 2022 verstand man das auch außerhalb der Ukraine.
Als zentral gilt in Ihrer Installation ein Gas-Deal von 1970, der auch die Neue Ostpolitik Willy Brandts markieren sollte: Mannesmann liefert die Röhren für den Bau der Pipeline von Sibirien durch die Ukraine in die BRD, die Deutsche Bank finanziert und die UdSSR liefert das Gas. Im Hintergrund zog Wirtschaftsmann Otto Wolff von Amerongen die Fäden. Wer ist der Mann, Hito Steyerl?
Jahrgang 1966, ist Filmemacherin, Autorin und Künstlerin in Berlin.
Hito Steyerl: Er war ein einflussreicher Industrieller, hatte die Firma seines Vaters geerbt, der schon in den 1920er Jahren den Export von Gasröhren in den Kaukasus vorantrieb. Im Auftrag des NS-Regimes handelte Wolff von Amerongen mit Aktien und Wertgegenständen, auch jene, die Jüd:innen enteignet worden waren, um Rohstoffe für panzerbrechende Munition für die Wehrmacht zu kaufen. Und nach dem Krieg, als Nazi-Geschäfte in Deutschland einfach weitergingen, wurde er zu einem wichtigen politischen Makler. Von 1955 bis 2000 war er Vorsitzender vom Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft. Zu seiner Zeit im NS hat er nie Stellung bezogen.
Oleksiy Radynski: Wolff von Amerongen war ein Ideologe der Losung „Wandel durch Handel“. Er war überzeugt, dass man mit der Sowjetunion Geschäfte machen müsste, damit sie den Kommunismus aufgibt. Er wollte den sowjetischen Parteibossen zeigen, wie reich sie persönlich werden können. Mit anderen Worten: Er wollte sie korrumpieren. Als die Sowjetunion zusammenbrach, sagten die Parteieliten sich: „Okay, klar, lasst uns all diese enormen Ressourcen und Reichtümer privatisieren.“ So entstand der Putinismus. 20 Jahre später hatten wir eine umgekehrte Korruption: eine extraktivistische, russische Wirtschaft, die die deutsche Politik mit dem Versprechen vom billigen Gas erkaufte. Das Leben von Millionen Ukrainern war Teil des Rabatts.
Sie zeigen in Ihrer Filmcollage auch moderne Gasförderanlagen von Gazprom, Hito Steyerl. Was sind das für Aufnahmen, wie haben Sie diese ästhetisch verarbeitet?
Hito Steyerl: Meine Filmcollage besteht großteils aus PR-Material der Nord Stream AG. Man konnte es von der Website runterladen und frei verwenden. Auf fünf Bildschirmen wird dann das Filmmaterial von links nach rechts geschoben, wie entlang einer Pipeline. Der Transport fossiler Brennstoffe soll sich so in der Bewegung von Bild und Information spiegeln.
Die massiven Umweltschäden der Gasförderung in Sibirien tauchen in Ihrem Film auf, Oleksiy Radynski, und der politische Druck auf die indigene Bevölkerung dort. Warum bringen Sie dies in die Form eines Roadmovies aus den 1980ern?
Oleksiy Radynski: Wir nennen den Film auch einen antikolonialen Roadmovie. Er besteht aus Filmmaterial der 1980er Jahre, das ich im Kyjiwer Wissenschaftsfilm-Archiv gefunden habe. Ukrainische Filmemacher:innen hatten damals Reisen nach Sibirien und in die Arktis unternommen. Für mich ist es wie Rohmaterial für einen Roadmovie, der noch fertigzustellen ist. Aber es birgt eine komplexe Kolonialdynamik. Es wurde in der Sowjetukraine produziert, die damals eine Kolonie Sowjetrusslands war. Und die Filmemacher:innen aus der Ukraine wurden in eine andere Kolonie der Sowjetunion geschickt, um Propagandafilme zu produzieren.
Ukrainer:innen waren also auch Kolonisator:innen in Sibirien. Manchmal wurden sie gezwungen dort hinzugehen, manchmal gingen sie freiwillig. Ein Teil der Rohstoffindustrie auf der Jamal-Halbinsel ist ein Produkt ukrainischer Ingenieur:innen, sie haben zu den Umweltzerstörungen dort beigetragen und damit vielen Indigenen die Lebensgrundlage geraubt. Auch das spiegelt das historische Filmmaterial wider.
Will man die Energiegeschäfte zwischen Deutschland und der russischen Föderation begreifen, muss man dann an einem anderen Begriff von Kolonialismus arbeiten?
Hito Steyerl: Wenn wir über diese Situation sprechen, unterscheidet sie sich stark von den Standarddefinitionen von Kolonialismus, in der es eine Kolonialmacht und eine unterworfene Entität gibt. Wir haben es mit vielen verschachtelten Ungleichheitsbeziehungen zu tun. Ich spreche lieber von einem „fraktalen Kolonialismus“. Da gibt es Kolonisierte und die sind eine Ebene tiefer selbst Kolonisatoren mit anderen Kolonisierten, und diese unterdrücken wiederum andere usw.
Oleksiy Radynski: Wir sollten uns eher Gedanken darüber machen, wie wir über russisches Gas sprechen. Dieses Gas ist keineswegs russisch, und wir machen uns zu Komplizen des russischen Kolonialismus, wenn wir es als solches bezeichnen. Das Gas, das nach Deutschland kommt, stammt aus von Russland besetzten Territorien indigener Völker. Diese Gebiete wurden durch brutale Völkermorde besetzt, die über Jahrhunderte hinweg stattgefunden haben. Davon wissen im Westen nur wenige. Ich schlage also vor, über „von Russland besetzte Gebiete Sibiriens“ zu sprechen.
Hito Steyerl: Ich arbeite nicht mehr mit der von Walter D. Mignolo geprägten Schablone des Dekolonialen. Sie wird zu leicht von neuen imperialen Mächten in einer neuen multipolaren Welt übernommen. Denken wir an die Kunstbiennale in Venedig, wo jetzt Russland in seinem Pavillon eine vollständig „dekoloniale“ Ausstellung von Bolivien präsentieren lässt. Oder an den Begriff des Siedlerkolonialismus. Er bietet sicherlich eine passende Vorlage für die Situation in den USA, angelsächsischen und auch anderen Ex-Kolonien, aber nun wird er universalisiert und als Schablone auf jede beliebige Situation in der Welt angewandt. „LEAK“ ist insofern auch der Versuch, ein differenzierteres Vokabular zu entwickeln.
Energiegeschäfte werden in der zeitgenössischen Kunst gern kritisch kommentiert, etwa wenn es um die USA und irakisches Öl geht. Warum interessierte sie sich so wenig für die Gasgeschäfte Russlands?
Oleksiy Radynski: Ich bin kein Fan des Konzepts der Korruption, aber ich muss dieses Wort hier wieder verwenden. Das rechtsextreme Regime in Russland hat die Kunstwelt korrumpiert.
Hito Steyerl: Nehmen wir das Beispiel Walter Smerling aus Bonn, der mit seiner Stiftung Kunst und Kultur in Deutschland kolossale Ausstellungen organisierte, deren Schirmherr unter anderem Wladimir Putin war. Und diese Ausstellungen waren in ein Netzwerk von Mäzenen und Sponsoren aus der Energiewirtschaft, der Stahlindustrie, einer teils nordrhein-westfälischen Industriellen-Kabale, eingebettet. Sie haben jahrzehntelang von billiger Energie aus der sibirischen Region profitiert.
Oleksiy Radynski: In Russland hat sich ein oligarchisches Modell der Kunstproduktion entwickelt. Es gibt viele superfinanzierte Art Spaces, die bis zu den Wirtschaftssanktionen 2022 von internationalem Einfluss waren. Das Moskauer Garage-Museum etwa, gegründet von Roman Abramowitsch, oder das erst 2021 eröffnete Privatmuseum GES-2 vom Gasmagnaten Leonid Michelson. Zeitgenössische Kunst ist für das Putin-Regime auch ein Werkzeug der Postfaktizität. Wo sonst kann man sagen „Weiß ist Schwarz und Schwarz ist Weiß“ und kommt damit sogar davon?
Was hat es mit der „Kultur-Pipeline“ auf sich, die in Ihrem Film auftaucht?
Hito Steyerl: Die „Kultur-Pipeline“ ist eine Art Dekoration des Gas-Deals zwischen der BRD und der UdSSR in den 1980ern durch groß angelegte Kunstausstellungen. Faszinierend, Unternehmen wie Mannesmann oder die Deutsche Bank arbeiteten dafür mit dem sowjetischen Kulturministerium zusammen, sie waren besties. Wertvolle Objekte und Kunstwerke aus der UdSSR waren dann in Deutschland zu sehen.
Wieso ersetzten Sie Fernsehmaterial des WDR von 1986 mit einer KI-generierten Szene, Hito Steyerl?
„LEAK. Das Ende der Pipeline“: Oleksiy Radynski und Hito Steyerl in Zusammenarbeit mit Kulturforscher Philipp Goll, Museum der bildenden Künste Leipzig, bis 4. August 2024. „LEAK“-Konferenz: 22. Juni
Hito Steyerl: Der originale Clip zeigt einen bizarren Dialog zwischen zwei deutschen Journalisten, die zu erklären versuchen, woher das Gas kommt, und dabei rassistische Anspielungen auf die Indigenen Sibiriens machen. Wir konnten ihn nicht verwenden, die Rechte dafür liegen auch bei einem sowjetischen Fernsehunternehmen, das nicht mehr existiert. Also habe ich ihn mit KI rekonstruiert. Das sieht sehr hässlich aus. KI-Bildgenerierung macht derzeit alles hässlich und dumm. Aber die Ästhetik passt hier bestens.
Oleksiy Radinsky: Die Episode zeigt die Fehldarstellungen der Tschuktschen aus Sibirien auch in der deutschen Öffentlichkeit. Wie viele andere indigene Gruppen sind die Tschuktschen in Russland immer schon und immer noch Rassismus ausgesetzt. Diese Menschen werden gerade überproportional in die russische Armee eingezogen und dienen als Kanonenfutter in der Ukraine – mit der unerwarteten Rückwirkung, dass einige von ihnen sich jetzt den ukrainischen Streitkräften anschließen, als eine Form des eigenen Befreiungskampfes. Es gibt dort offiziell das Sibirische Bataillon.
Hito Steyerl: Und bei den russischen Streitkräften gibt es sogar Einheiten von Gazprom, wie Oleksiy mal erwähnte. Die Zusammenhänge sind sehr komplex, auch was die Rolle der Kunst betrifft. Man muss einen angemessenen theoretischen Rahmen entwickeln, um das alles zu verstehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Landesparteitag
Grünen-Spitze will „Vermieterführerschein“
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Die Wahrheit
Herbst des Gerichtsvollziehers