Film zur Debatte über das Tierwohl: Liebeserklärung an eine Sau
„Gunda“ ist der neue Dokumentarfilm des eigenwilligen russischen Regisseurs Victor Kossakovsky. Protagonistin des Films ist ein Mutterschwein.
Regel Nummer 1: „Filmen Sie nicht, wenn sie ohne Film leben können.“ Regel Nummer 2: „Filmen Sie nicht, wenn Sie etwas sagen wollen. Sagen Sie es einfach oder schreiben Sie es.“ Zehn solche schlitzohrigen Maximen hat der russische Dokumentarfilmer Victor Kossakovsky für die lernhungrigen Meisterklassen aufgestellt, in denen er seine rund um den Globus erfolgreiche Schule des Sehens weitergibt. Zeigen, nicht beschreiben will er noch nie Gesehenes.
Grandiose Bilder, raffinierte Sounds, überhaupt technisches Know-how, wie die filmische Wahrnehmung zu steigern und zu entgrenzen sei, rangieren in seiner Welt der Schaulust weit vor Konzepten und Anträgen, wie sie der deutsche Förderdschungel in Buchstabenform vorschreibt. Der Filmemacher mit Wurzeln in Leningrad (heute St. Petersburg), ist längst ein Weltbürger mit Wohnsitz in Berlin, der universell eingängige Filmerlebnisse schaffen will und geschickt dafür internationale Produktionsnetzwerke nutzt.
Seine Philosophie lehnt er an Andrei Tarkowskis cineastische Metaphysik an. Einzutauchen in ikonische Kinomomente hält er für wichtiger als dramaturgische Handlungslogik oder erklärende Voice-over-Kommentare. „Aquarela“ (2018), Kossakovskys wuchtig-raffinierter Trip ins Element Wasser und seine Urgewalt in krachenden Eisbergen, dampfenden Wasserfällen, wüsten Regenstürmen und Fluten, spielt mit der Angstlust vor Katastrophen, wie sie das zeitgenössische Denken im Angesicht des Klimawandels prägt.
Er selbst versteht die spektakuläre Ästhetik seiner Filme jedoch als poetische Erfahrung und visuelle Energie, die das Kino den anderen Künsten voraushat.
„Gunda“. Regie: Victor Kossakovsky. Norwegen/USA 2020, 93 Min.
In „¡Vivan las Antipodas!“ (2014) komponierte er faszinierende Naturphänomene und Alltagsszenen aus diversen Weltteilen zu einem exzentrischen Trip an Orte, die einander auf dem Globus exakt gegenüberliegen – als würde man die Reise zum Mittelpunkt der Erde konsequent bis ans andere Ende weiterführen. Menschen begegnet man in diesem spiegelglatten Hymnus auf die Schönheiten der Erde nur in größerer Distanz, wenn zum Beispiel zwei alte Brüder die Brücke über eine idyllische Furt in einem argentinischen Sumpfgebiet reparieren oder routinierte neuseeländische Schafhirten die Herde scheren.
Aber zugegeben: Die opulent leuchtende Skyline von Schanghai, auch die zahllosen blauen Riesenschmetterlinge in einem spanischen Naturreservat oder der Gag mit auf dem Kopf stehenden Bildern, die ins entgegengesetzte Ende der Welt entführen, bleiben aus seinem Überwältigungskino in Erinnerung.
Endlich gibt es eine Protagonistin
Und nun das: „Gunda“, Victor Kossakovskys neuer Film, ist das komplette Gegenteil seiner vorhergehenden Farbräusche und Zeitreisen. Endlich gibt es eine Protagonistin, wenn es sich auch um ein schwerfälliges Mutterschwein handelt. Dieser „Meryl Streep des Bauernhofs“ (der Regisseur in einem Interview) und ihrem Ferkelwurf ist der größte Teil des Films gewidmet, mit all der Ruhe und minimalistischen Wiederholung, die es in natürlicher Umgebung braucht, wenn eine nicht gestresste, sich frei bewegende Muttersau zehn oder mehr Ferkel großzieht.
Auch Hühner beobachten die Kameras von Victor Kossakovsky und Egil Håskjold Larsen in einer anderen Episode teilnahmsvoll. Die Hühner, darunter ein einbeiniges, stoßen vorsichtig die angelehnte Tür ihres Käfigs auf, staksen äugend durchs Gras und lüften ihr geschundenes Federkleid. Indirekt, ohne sichtbare Eingriffe von Menschenhand, deutet der Film hier an, dass wir uns auf einem Lebenshof befinden, auf dem Tiere, die aus der brutalen Nutztierhaltung ausgemustert wurden, ihr Gnadenbrot finden.
Gunda, das Hausschwein, die Hühner und schließlich ein paar gealterte Kühe auf der Weide, deren Körperlichkeit und physiognomische Eigenarten der Film geduldig und diskret porträtiert, gehören alle drei zu den Spezies, die jährlich tonnenweise verzehrt werden. Als Kind, erzählte Kossakovsky einem Schweizer Magazin für vegane Lebensführung, habe er bei den Großeltern auf dem Land mit einem Ferkel Freundschaft geschlossen. Nie kam er darüber hinweg, dass man seinen Freund zu Weihnachten als Braten servierte. Das, so Kossakovsky, machte ihn zum „ersten Vegetarier der Sowjetunion“.
Inszenatorisch aufwändig
Inzwischen 60 Jahre alt, kehrt der Regisseur mit „Gunda“zu seinem Kindheitsthema zurück. Er knüpft auch an seinen frühen Schwarz-Weiß-Film „Die Belovs“ an, einen Klassiker des lyrischen Dokumentargenres, in dem er 1993 das Leben einer kuriosen Geschwisterfamilie mit „Kühen, Kartoffeln und Hund“ in einem verarmten russischen Dorf beobachtete. „Gunda“ indes schafft fast dreißig Jahre später, gedreht mit inszenatorischem Aufwand und stilistischem Gespür für die Ausstrahlung seiner tierischen Freunde, den Film zur Debatte über das Tierwohl.
Kossakovsky nutzte frühere Drehreisen zu „Aquarela“, um das Phänomen der Lebenshöfe kennenzulernen. In Norwegen, Großbritannien und Spanien fand er so erste Bilder zu seinem noch nicht ausformulierten Thema, das Gunda mit ihren großen Ohren, dem wachen Rätselblick und dem weichen Rüssel schließlich nicht ohne Unterhaltungswert auf den Punkt zu bringen verhalf.
Das Drehmaterial rund um die entspannte Schweinemutter sandte Kossakovskys langjährige Produzentin Anita Rehoff-Larsen an den Hollywoodstar Joaquin Phoenix, der sich zur fleischlosen Ernährung bekennt. Phoenix war sofort bereit, seinen Namen mit dem Projekt zu verbinden und sich als ausführender Produzent zu engagieren.
Bodennahe Perspektiven
Gedreht in gestochen scharfen, hochauflösenden Schwarz-Weiß-Bildern und Grautönen, bewegt sich der Film nur auf kleinem Fleck: im Stall, auf Wiesen, unter Bäumen, immer aus bodennahen Perspektiven. Als sei das Publikum Teil der Familie, bringt uns der Effekt den Blick auf die Erde nah. Der obligatorische Schmuddel eines Landwirtschaftsbetriebs, vulgo Misthaufen oder Futtervorräte kommen in „Gundas“ Idylle nicht vor. Unkenntlich bleibt, in welcher europäischen Region sie angesiedelt ist, auch Menschen sind nicht sichtbar im Bild.
Wie in allen Filmen Kossakovskys spielt die Soundgestaltung, das heißt die suggestive Nachbearbeitung natürlicher Töne durch das Team seines Foley-Artists Alexander Dudarev, eine große Rolle für die romantische Wirkungsmacht der Landlust, die „Gunda“vermitteln möchte.
Gleichwohl setzt der Regisseur Tierfilmer-Handwerk ein, um sein Thema, Gundas „Rolle“ als hingebungsvolle Mutter, in Szene zu setzen. Er ließ einen runden Stall mit kuscheligem Strohbett bauen, das schwarze Viereck des Ausgangs das magische Zentrum für Gundas und der Ferkel Auftritte. Mehrere Kameras zeichneten vom Tag der Geburt an im 360-Grad-Winkel Nahaufnahmen von den Kleinen auf.
Beginnend mit Gundas zufriedenem Schnarchen und sich steigernd bis zum ersten Auftauchen einzelner Ferkel hinter ihrem Rücken (der eigentliche Geburtsvorgang bleibt unsichtbar), stellt der Film die Gier nach den mütterlichen Zitzen und den Futterneid der quiekenden Truppe als sympathische Mutter-Kind-Beziehung in den Mittelpunkt.
Ein Sehnsuchtsbild
Beklommenheit angesichts der wilden Aggression, wie sie vielleicht eine menschliche Mutter beim Anblick von Gundas Milchbauch erfasst, scheint Kossakovsky nicht zu spüren – so oft wiederholt er die Szenerie. Ein Nachzügler wird von Mutters schwerem Tritt im Stroh verletzt, man sieht das quiekende kleine Etwas später hinkend bei den anderen draußen, sorgsam vom mütterlichen Rüssel beschnuppert. Später sieht man es nicht mehr unter den halbstarken Geschwistern.
Anders als das sensationsheischende Infotainment über Tierwelten, das unsere Wahrnehmung manipuliert, geht von „Gunda“ die Magie eines kontemplativen Zeitgefühls aus. Auf Kosten harter Fakten, zum Beispiel das Fressen und Gefressenwerden in der Natur, verführt der Film tröstlich zu einem Sehnsuchtsbild, in dem Victor Kossakovsky auf der Suche nach der Seele in den Tieren seinem pantheistischen Ideal näher kommt als je zuvor.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Der alte neue Präsident der USA
Trump, der Drachentöter
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens