Film über kolonialen Genozid: Für die Haustechnik ist Platz
Nächste Woche kommt der Film „Der vermessene Mensch“ in die deutschen Kinos. Im Bundestag wurde er vorab präsentiert – mit einigen Irritationen.
„Steht da auch etwas zum Völkermord?“, fragt die Schauspielerin den Mitarbeiter der Grünen, der sie durch die Flure führt. „Schauen wir mal“, antwortet er. Das Grüppchen geht vorbei an der Tafel zur Märzrevolution, dann geht es weiter zur Reichsgründung, schnell folgt der Erste Weltkrieg und die Weimarer Republik. Kolonialzeit vorbei – und kein Wort zu Deutsch-Südwestafrika, zu den Herero oder den Nama.
Nach „Drittem Reich“, Holocaust, Nachkriegszeit und Wiedervereinigung endet die Chronik. Der nächste Flur ist mit Fotografien von Rohren und Kabeln geschmückt. „Was ist das denn?“, fragt Jazama. „Die Haustechnik“, antwortet der Grüne. „Dafür ist also Platz …“, murmelt die Schauspielerin.
Das passt ins Bild: Der Völkermord an den Herero und Nama ist in Deutschland eine Leerstelle. Zwischen 1904 und 1908 töteten deutsche Soldaten auf dem Gebiet des heutigen Namibia Zehntausende Angehörige der beiden Völker. Die Vernichtung rechtfertigten sie mit vorangegangen Aufständen gegen die deutsche Kolonialmacht. Der Massenmord gilt als erster Genozid des 20. Jahrhunderts. Seit einigen Jahren erhält er in Feuilletondebatten und postkolonialen Kreisen zwar vermehrte Aufmerksamkeit, außerhalb dessen ist er aber selten Thema.
Der erste Film, der vom Völkermord handelt
Der Film „Der vermessene Mensch“, der nächste Woche in die Kinos kommt, könnte daran etwas ändern. Die deutsche Produktion ist der erste Spielfilm überhaupt, der von dem Völkermord handelt. In den 1970ern war es die TV-Serie „Holocaust“, die den Deutschen jenseits von Dokus erstmals Bilder und eine eingängige Geschichte über den Genozid an den Juden lieferte – und damit eine ganz neue gesellschaftliche Diskussion auslöste. „Der vermessene Mensch“ soll dereinst auch im ZDF gesendet werden. Wenn es gut läuft, kann der Film vielleicht Annäherndes leisten.
Zunächst einmal hat er aber die Schauspielerin Jazama in den Bundestag geführt. Die Namibierin, selbst eine Herero, spielt im Film in der wichtigsten Nebenrolle eines der Genozidopfer. Auf Einladung der Grünen-Fraktion, die den Film vor geladenen Gästen vorab zeigt und diskutieren lässt, ist sie am Dienstag im Parlament zu Gast.
Es ist natürlich nicht das erste Mal, dass der Völkermord hier Thema ist. 1904 benötigte die deutsche Regierung Geld, um zusätzliche Soldaten in den Vernichtungskrieg zu schicken. Der Reichstag diskutierte über die Mittelfreigabe und stimmte schließlich zu. Zwei Jahre später verweigerte die Mehrheit der Abgeordneten dann weiteres Geld, woraufhin der Reichskanzler das Parlament auflösen ließ. Für die Geschichtstafeln der Bundestagsflure gäbe es also genügend Stoff.
Der Film könnte es schaffen, „dass wir hier eine ernsthafte Debatte darüber kriegen, was dort vor 120 Jahren passiert ist“, sagt die Grüne Katja Keul am Dienstag während der Podiumsdiskussion, die sich an die Filmvorführung anschließt – und formuliert damit den großen Konsens der Veranstaltung. Keul ist von Berufs wegen mit dem Thema befasst: Seit dem Regierungswechsel ist die Abgeordnete als Staatsministerin im Auswärtigen Amt für Afrika zuständig. In ihren Bereich fällt auch eine geplante Versöhnungserklärung.
Nicht mehr komplett ignorant
Zumindest deutsche Bundesregierungen sind dem Thema gegenüber schon seit einiger Zeit nicht mehr komplett ignorant. Ein fertiges Abkommen liegt seit zwei Jahren vor. Es sieht unter anderem eine förmliche Entschuldigung durch den Bundespräsidenten und Entwicklungshilfe in Höhe von 1,1 Milliarden Euro über 30 Jahre vor. Ratifiziert ist es aber bisher in keinem der beiden Länder. Das Problem in Kurzform: Die Bundesregierung hat das Papier vornehmlich mit der namibischen Regierung verhandelt. In ihr sind die Opfergruppen aber nur zum Teil repräsentiert und einige Vertreter der Herero und der Nama sind mit dem Ergebnis nicht zufrieden.
Aus Sicht der Bundesregierung ist das eine innernamibische Angelegenheit, die dort geklärt werden muss. Keul kann zwar wie zuletzt im Dezember in Namibia Gespräche führen, im Grunde hängt sie aber in der Luft. „Durch die Frage der Erklärung sollten wir nicht zu sehr einengen“, sagt sie nun in Berlin. Zur Anerkennung des Unrechts ließe sich auch jenseits des Abkommens einiges machen. Startet der Film in Deutschland tatsächlich die erhoffte Debatte – Keul könnte es in Namibia als Zwischenerfolg präsentieren.
Die Hoffnung, den Genozid als Thema zu setzen, gilt allerdings nicht nur für Deutschland. Das Panel macht deutlich: Auch wenn die Auswirkungen des Völkermords in Namibia bis heute offenkundig sind, ist er dort explizit ebenfalls selten Thema. Einen Film zu den deutschen Verbrechen gab es auch dort noch nie, was wohl an einem Bündel an Gründen liegt: der schwachen eigenen Filmindustrie, dem Desinteresse der Gesamtbevölkerung und der Verdrängung eigener Traumata.
So erzählt die Schauspielerin Jazama, dass sie sich erst durch ihre Filmrolle intensiv mit der eigenen Familiengeschichte beschäftigt habe. Erst da habe sie von einer Tante erfahren, dass eine ihrer Ahninnen in einem Konzentrationslager saß, von einem deutschen Offizier vergewaltigt und schwanger wurde. „Ich habe realisiert, dass ich das Nebenprodukt einer Vergewaltigung bin“, sagt sie. „Meine Vorfahren hatten nie die Gelegenheit, darüber zu sprechen.
Der Fokus liegt auf den Tätern
Eine Geschichte der Opfer zeigt der Film allerdings auch nicht. Der Fokus liegt auf den Tätern. Die Hauptfigur ist ein junger deutscher Ethnologe, der sich selbst schuldig macht.
Er habe sich bewusst für diese Story entschieden, sagt Regisseur Lars Kraume – und zeigt dann, dass er die Schlagworte der Critical Whiteness draufhat: Natürlich sollten Spielfilme über die Opfer folgen. Hätte er aber einen solchen Film gedreht, wäre das kulturelle Aneignung gewesen: Die Opfergeschichten müssten namibische Filmschaffende erzählen. Er wollte sie ihnen nicht wegnehmen.
Trotzdem erhält der Regisseur am Dienstag aus dem Publikum zum Teil massive Kritik für die Entscheidung, sowohl von Schwarzen deutschen Filmschaffenden als auch von einer weißen Filmwissenschaftlerin. Die Vorwürfe: Er reproduziere im Film Rassismus, erzeuge Empathie für einen Täter, erzähle eine White-Savior-Geschichte. Und: Die strukturelle Benachteiligung von Schwarzen im deutschen Filmwesen habe er fortgesetzt, indem er – abgesehen von namibischen Beteiligten – nur weiße Deutsche auf entscheidende Stellen seines Teams gesetzt habe.
Girley Jazama, die Schauspielerin, sagt an dieser Stelle des Panels nichts mehr. Am nächsten Tag postet sie auf Instagram aber ein Foto von sich und dem Regisseur in Berlin. „With my cool director Lars Kraume“, schreibt sie in die Beschreibung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Preiserhöhung bei der Deutschen Bahn
Kein Sparpreis, dafür schlechter Service
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Ansage der Außenministerin an Verbündete
Bravo, Baerbock!
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Housing First-Bilanz in Bremen
Auch wer spuckt, darf wohnen