Film über drei Kurdinnen in Berlin: Das Dorf als Sehnsuchtsort
Zwischen Wahlheimat und Exil: Serpil Turhans Dokumentarfilm „Köy“ ist ein vielschichtiges Porträt türkisch-kurdischen Lebens in Deutschland.
Ein Foto an einer Wand in einer Berliner Wohnung, das Bild zeigt ein Dorf vor blassgrünen Hügeln. Die Hügel liegen im kurdischen Teil der Türkei. In der Wohnung, in der das Foto hängt, bereitet eine alte Frau Aşure zu, eine Dessertsuppe aus Früchten. „Wie viele Früchte habt ihr im Dorf verwendet?“, fragt die Regisseurin aus dem Off. „In unserem Dorf gab es keine Früchte. Es gab gar nichts. Nur so einen trockenen Berg.“
Ein trockener, karger Berg, auf den sich auch nach Jahrzehnten noch Sehnsüchte richten. Serpil Turhans Dokumentarfilm „Köy“ (Dorf) zeigt drei kurdische Frauen aus drei Generationen. Alle drei sind Teil der Familie oder des Umfelds der Regisseurin, alle drei leben in Berlin.
Die alte Frau mit dem unerschütterlichen Realismus ist Turhans Großmutter Neno. Zu Beginn des Films erzählt sie die Geschichte eines unerwarteten Bleibens. Anfang der 1970er Jahre geht ihr Mann als „Gastarbeiter“ nach Deutschland, nach und nach folgt der Rest der Familie. Niemand rechnet damit, dass die Familie lange bleibt. Das Geld wird zurück in die Türkei geschickt und dort investiert, um ein Leben aufzubauen, das nie stattfinden sollte.
Die Familie ist geblieben. Und dennoch: Als ihre Enkelin erzählt, sie überlege, ihren Pass abzugeben, rät Neno ab. Man weiß nie. So sehr die türkische Regierung an der Beziehung sägen mag, abschneiden will die alte Frau sie nicht, das Land nicht den anderen überlassen.
Der Pass als Objekt der Zugehörigkeit
Vor allem zu Beginn des Films geht es viel um Pässe. Pässe, die man hat, Pässe, die man mitnimmt. Zûrê, die zweite Protagonistin des Films, erzählt, wie sie als Jugendliche von zu Hause weggelaufen ist. Das Einzige, was sie mitgenommen hat, sei ihr Pass gewesen. Im Rückblick ergänzt sie, sie habe damals wohl viele Filme gesehen, in denen Männer Frauen ihre Pässe weggenommen haben, um sie am Weglaufen zu hindern.
Als Zûrê als Kind in die Schule gekommen ist, hat sie erfahren, dass in ihrem Pass steht, dass sie Saniye heiße. Zûrês Pass mit dem fremden, später vertraut gewordenen Namen war Garant der Unabhängigkeit. In der Diskussion zwischen Serpil Turhan und ihrer Großmutter ist der Pass hingegen das Objekt, an dem sich Fragen der Zugehörigkeit festmachen.
„Köy“. Regie: Serpil Turhan. Deutschland 2021, 90 Min.
„Ich bin geboren, da gab es schon Krieg, und ich will nicht sterben, wenn es immer noch Krieg gibt.“ Hêvîn, die jüngste der drei Porträtierten, begegnet uns im Film als Aktivistin. Später berichtet sie vom schlechten Gewissen, in Berlin in relativer Sicherheit zu leben, während kurdisches Leben in der Türkei bedroht ist. Sie überlegt, zur Parlamentswahl 2018 als Wahlbeobachterin in die Türkei zu fahren, bewirbt sich parallel bei Schauspielschulen, wird schließlich an der Universität der Künste angenommen.
Für alle drei Frauen ist „Köy“, das Dorf, ein Sehnsuchtsort. Ein Ort, den man besuchen, an dem man leben, an dem man beerdigt werden will. Zûrê wünscht sich, einmal ein ganzes Jahr mit allen Jahreszeiten in Varto, im Osten der Türkei zu erleben. Nach einer verletzungsbedingten Pause erfüllt sie sich ihren Wunsch. Trotz aller Zweifel, ob sie all die Freiheiten, die sie sich erkämpft hat, auch in der Türkei wird leben können.
Der Sehnsuchtsort ist auch Angstort
Der Sehnsuchtsort ist auch ein Angstort. Zûrê hatte gehofft, ihren Wunsch in friedlicheren Zeiten umzusetzen. Doch der letzte Anlauf scheiterte, als die Türkei erneut eine Repressionswelle begann. Auf Frieden zu warten, um den Wunsch Wirklichkeit werden zu lassen, erscheint ihr zunehmend unrealistisch.
Als Hêvîn überlegt, als Wahlbeobachterin in die Türkei zu gehen, ruft ihre Mutter und ihr ganzes Umfeld ihr in Erinnerung, dass sie sich besser darauf einstellt, verhaftet zu werden. Von der Kompliziertheit der Situation genervt, erwidert Hêvîn, ein Spanier müsse sich solche Gedanken nicht machen, bevor er nach Hause fahre. Nur die Großmutter erwidert auf all die Befürchtungen und Ängste: „Du hast Angst, er hat Angst, alle haben Angst. Wenn alle Angst haben, was soll dann geschehen.“
Visuell ist „Köy“ ein statischer Film. Zwar begleitet er seine drei Protagonistinnen auch im Alltag, den Kern des Films bilden jedoch die Gespräche, die die Regisseurin mit den dreien führt. Die Bewegung findet vor allem im Austausch, im Wechsel der Perspektiven der Gesprächspartnerinnen statt.
Besonders in den Gesprächen der Regisseurin mit ihrer Großmutter zeigt sich diese Beweglichkeit der Dialoge. „Genre der intimen Gespräche“ hat Madeleine Bernstorff diesen Fokus auf das Reden in Turhans Filmen in einer Besprechung zu „Köy“ genannt. Das Besondere an „Köy“ ist, dass diese Intimität nicht privat bleibt, sondern sich Familiäres und Politisches vermischen.
Kurdische Herkunft und unterschiedliche Generationen
„In den letzten Jahren verfolgte ich intensiv die politische Entwicklung in der Türkei, und meine Ambivalenz zum Herkunftsland meiner Familie wuchs. Ich versuchte, eine Haltung zu finden und realisierte, dass es mir alleine nicht gelang. Es war für mich notwendig, mit Menschen zu sprechen, die eine Verbindung wie ich zur Türkei hatten und die politische Entwicklung aus der Ferne beobachteten“, schreibt Serpil Turhan im Pressematerial zum Film.
Die kurdische Herkunft und die unterschiedlichen Generationen ihrer Protagonistinnen lassen ein komplexes Bild des türkisch-kurdischen Verhältnisses und der türkischen Politik entstehen.
Turhan begann ihre Filmkarriere Ende der 1990er Jahre als Schauspielerin, unter anderem in „Geschwister – Kardeşler“ und „Der schöne Tag“ von Thomas Arslan sowie Rudolf Thomes Zeitreisen-Trilogie. Ab Mitte der 2000er Jahre studierte sie bei Thomas Heise an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe.
Als Abschlussfilm entstand 2013 ein erster autobiografischer Dokumentarfilm „Dilim Dönmüyor – Meine Zunge dreht sich nicht“. 2016 stellte Turhan ein Gesprächsporträt Rudolf Thomes fertig. „Rudolf Thome – Überall Blumen“ feiert auf dem Forum der Berlinale Premiere. „Köy“ eröffnete 2021 die Duisburger Filmwoche.
Auch Kreuzberg ist „Köy“
„Köy“ ist ein vielschichtiges Porträt des türkisch-kurdischen Lebens in Berlin, in einem Zustand zwischen Wahlheimat und Exil. Für Hêvîn ist auch Kreuzberg rund um das Kottbusser Tor Köy, das Dorf, in dem sie Bekannte auf der Straße trifft, die Gegend, in die sie aus anderen Teilen Berlins zurückkehrt und befreit aufatmet.
Zweimal sind die blassgrünen Hügel des Dorfes in Erzincan zu sehen. Einmal zu Beginn und einmal zum Begräbnis der Großmutter. Hier und da liegen einige Flecken Schnee, der Boden scheint rötlich durch den kargen Bewuchs. Die Erde, die für das Grab ausgehoben wurde, ist ein trockener Haufen, der Wind weht die Schaufelladungen wie von selbst zurück. Wie die meisten Sehnsuchtsorte kommt auch dieser für Außenstehende unspektakulär daher.
Die Bezüge auf diesen Ort sind gewählt oder aufgezwungen, werden gepflegt oder nicht gepflegt, bleiben über Generationen und allerlei zufällige Lebensentscheidungen erhalten oder auch nicht. Der Fokus auf die Gespräche über Fragen der Zugehörigkeit, die der Sehnsucht nach Heimat im Kopf nachgehen, voller Humor und Intimität, machen „Köy“ zu einem eindringlichen Film. Man wird es kaum vermeiden können, berührt, nachdenklich und gesprächig aus dem Kino zu kommen.
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