Festspiele Bregenz 2019: Vom großen Bohei am Bodensee
Philipp Stölzl inszeniert „Rigoletto“ als schönes buntes Riesenspektakel bei den Bregenzer Festspielen. Gildas Seele entschwebt im Fesselballon.
„Naa“, sagt der nette junge Mann an der Rezeption und zieht dabei das aa auf diese österreichische Art in die Länge, die gleichzeitig so liebenswürdig und doch auch ein klein wenig überlegen daherkommt, „naa, wenn ich zum Pfänder hinaufwandern würde, würde ich an Ihrer Stelle gar keine Karte kaufen. Das ist alles ausgeschildert.“ Ich hatte ihn nach einer Wanderkarte gefragt für die Wege auf den Hausberg von Bregenz. Dieser Wunsch nach einem geografischen Überblick war vielleicht sehr deutsch. In Österreich kann man sich aber darauf verlassen, dass an jeder Weggabelung mindestens drei Schilder stehen.
Und so ist es dann auch. Der Fußweg nach oben belohnt immer wieder mit Aussichtsblicken zurück auf den Bodensee. Ab und zu kündigt ein Rauschen wie von einem fernen Wind die nächste Vorbeifahrt der großen Seilbahn an. Die meisten Menschen bezwingen den Pfänder nämlich mithilfe modernster Beförderungstechnik. Bis zu achtzig Personen können gleichzeitig mit der Gondel transportiert werden. Dementsprechend gigantisch fallen deren Stützen aus, die die Strecke markieren.
Die Statiker haben es für sinnvoll gehalten, die großen Stahltürme schief am Berg aufzustellen, seinem natürlichen Gefälle gehorchend. In der Seitenansicht sieht das eigenwillig und beängstigend aus.
Als ich ganz oben bin, blickt von unten weit offen der Bodensee zurück. Zwischen uns liegt diesige Luft, aber selbst aus dieser Entfernung kann ich gut erkennen, wo ich gestern Abend gewesen bin: Den Rigoletto-Ballon, der für die diesjährige große Premiere der Bregenzer Festspiele neben der Seebühne angebracht ist, sieht man wahrscheinlich noch aus dem All. Nein, Quatsch. Aber die Zuschauertribüne, die 7.000 Personen fasst, wahrscheinlich schon.
Die Bregenzer Festspiele laufen bis 18. August.
"Rigoletto", wieder am 23. + 24. Juli 2019.
"Don Quichotte" am 29. Juli 2019.
Mut zum Monumentalen
Auch bei den Festspielen wird nämlich groß gedacht. Zwar findet das Sommerfestival jedes Jahr statt, doch nur alle zwei Jahre gibt es eine Premiere auf der Seebühne.
Der Aufwand, der dabei betrieben wird, ist enorm; muss es sein, denn die Seebühne sprengt schlicht das herkömmliche Opernformat. Für die Regie wurde diesmal Philipp Stölzl verpflichtet, der sich nicht nur mit Operninszenierungen einen Namen gemacht hat, sondern zuvor Filme gedreht, unter anderem für Rammstein gearbeitet und dabei gezeigt hatte, dass er sich nicht vor dem Monumentalen fürchtet.
Trotzdem konnte man skeptisch werden, wenn man vorab ein wenig im Netz herumsuchte. Die gut geölte PR-Maschinerie der Festspiele hatte ganze Arbeit geleistet. YouTube-Beiträge und Vorberichterstattung überschlugen sich mit Superlativen ob der enormen handwerklichen Leistung, die erbracht worden war, um Stölzls Bühnenbild-Vision zu verwirklichen.
Ein bisschen crazy
Tatsächlich ist die Tatsache, dass jetzt ein gigantischer, animierbarer Kopf, umgeben von zwei riesigen hölzernen Händen, über dem Wasser thront und auf die Seebühne blickt, das stolze Ergebnis der Arbeit von zig verschiedenen Gewerken. Etwa 40 Tonnen wiegt der Kopf, sein Transport muss ein Abenteuer gewesen sein. Neben ihm der Riesenballon, der wirkt wie aus einem alten Kinderbuch ausgeschnitten. Ein bisschen crazy, das Ganze, und sehr schön. Noch Minuten vor der Premiere hängt ein Handwerker, am Seil gesichert, an der Seite des Riesenkopfes und malert herum. Auch das zweifellos ein Teil der Inszenierung Vorarlberger Handwerkskunst. Die Festspiele kommen immer auch als Gesamtpaket.
Bei all dem Bohei ist der Erwartungsdruck, der auf einer solchen Produktion lastet, ebenfalls riesig. Die Befürchtung, dass der Großteil kreativer Energie in das Funktionieren und Sinnvollmachen der Technik fließt, ist auf jeden Fall angebracht. Und tatsächlich ist man als Zuschauerchen vor der Riesenkulisse zunächst lange damit beschäftigt, die Dimensionen zu verarbeiten.
„Rigoletto“ im Zirkuskostüm
Stölzl hat Verdis Oper „Rigoletto“ ein Zirkuskostüm verpasst. Die Blaskapelle, die zu Beginn über den Bühnenaufbau marschiert, und der harlekineske Conférencier, der von schwindelerregender Höhe oben auf dem Kopf aus das Stück einleitet, wirken zwischen Holzkopf und -händen wie winziges Getier. Später gewöhnt man sich an die Proportionen.
Aber erst einmal fasziniert gewaltig, wie der Riesen-Rigoletto lebt. Wie er den Kopf, Mund und Augen bewegen kann, wie die Hände sich zu vielsagenden Gesten arrangieren lassen (auch den Stinkefinger kann er zeigen), zu Mitspielern werden oder zur Nebenbühne. Auch der Boden darunter scheint zu leben, denn mit dem Zerbrechen von Rigolettos Welt zersplittert auch die Bühne zu einem prekären Arrangement von Stegen und Plattformen.
Für die Sängerinnen und Sänger ist eine solche Aufführung durchaus mit Gefahren verbunden und erfordert große körperliche Gewandtheit. Besonders die Rolle von Rigolettos Tochter Gilda dürfte nicht so leicht zu besetzen gewesen sein. Oder ist es etwa branchenweit bekannt, dass die Sopranistin Mélissa Petit so schwindelfrei ist, dass sie in fünfzig Meter Höhe rittlings auf dem Rand einer Ballongondel nicht nur sitzen, sondern dabei auch noch glockenrein und sehr verliebt singen kann?
Fünkchen Übertreibung
Am Premierenabend zeigt sich jedenfalls, dass sie diese Aufgabe mühelos ausfüllt. Sie dürfte damit aber nicht die Einzige sein, denn alle Rollen sind mehrfach besetzt; immerhin läuft die Inszenierung zwei Jahre lang. Auch der Rigoletto (Vladimir Stoyanov) und der leichtfertige Herzog (Stephen Costello) des Premierenabends zeigen sich ihrem Geschäft gewachsen, und Costello schafft es, in seine gesungenen Treuebeteuerungen genau jenes Fünkchen Übertreibung zu legen, das deutlich macht, dass auch seine besten Absichten zwar für den Moment ehrlich gemeint, aber keineswegs ernst zu nehmen sind.
Das mit dem Ernstnehmen ist ja generell so eine Sache. Zwar ist „Rigoletto“ eine der „dunkleren“ Opern Verdis, und zweifellos ist die Geschichte des Hofnarren, der sich der Macht so skrupellos anbiedert, dass er am Ende seine unschuldige Tochter dafür opfern muss, tragisch. Die Musik aber ist, bei all ihrer Schönheit oder eben deshalb, so oft und überall gespielt worden, dass auch sie eben kaum noch ernst zu nehmen ist.
Hier kommt Philipp Stölzl ins Spiel, der sich getraut hat, diesen „Rigoletto“ so ins Karnevaleske zu steigern, dass damit auch das Karnevaleske, das gleichsam unnötig Schöne, dieser Musik plötzlich hörbar wird. Und hinter dem ganzen ästhetischen Overkill wird auf einmal die Nacktheit des wahren Gefühls zumindest wieder ahnbar. Ja, und wer eher nicht in der Stimmung ist, das zu ahnen, hat zumindest einen bunten, richtig gut gesungenen Abend erlebt und viel zu gucken gehabt. Denn, klar: Es ist halt ein Riesenspektakel.
Der arme alte Don
Die zweite Premiere der Festspiele, am Folgeabend im Festspielhaus, hat es dagegen schwer. Jules Massenets „Don Quichotte“ ist musikalisch nicht ohne Verdienste, aber nur ein kleines Opernlicht gegen Verdis all-time favourite. Und die Regisseurin Mariame Clément tut dem dramaturgisch schwachbrüstigen Libretto keinen Gefallen mit ihrer ambitionierten dekonstruierenden Deutung.
Den armen alten Don herzunehmen für ein szenisches Ausprobieren von Männlichkeitsbildern mit und ohne Bart, ist sicher keine ganz dumme, aber eine gewagte Idee. Leider ist sie es nicht wert, nach jedem Akt eine mehrminütige Umbaupause – in der nicht nur die Bühnenbilder, sondern auch Kostüme und Frisuren gewechselt werden – hinnehmen zu müssen. Und dazwischen wird viel zu viel auf der Bühne herumgestanden.
Aber Schwamm drüber, es gibt ja noch mehr zu erleben. Zu den größten Attraktionen eines Premierenabends bei den Bregenzer Festspielen gehören ohnehin andere als die Bühnenkostüme, nämlich die vielen großgemusterten, farbenfrohen und sicherlich sehr teuren Abendroben, in denen die Damen während der Pause prachtvoll durch die Gegend defilieren, galant am Ellbogen gehalten von Herren in – fast ausnahmslos – einförmig dunklen Anzügen. So im Nachhinein scheinen ein paar neue Männlichkeitsbilder da vielleicht doch kein ganz verkehrter Gedanke zu sein.
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