Festival in Barcelona: Paläste für die Musik
Musik teils umsonst und in den schönsten Konzerthäusern der Stadt: Daran arbeiten in Barcelona zwei Festivals für klassische Musik parallel.
Am Nebentisch im Straßenimbiss sitzt ein kleiner alter Mann. Auf seinem Schoß schläft ein Hündchen, und neben seinem Wasserglas steht auf dem Tisch ein tragbarer Minilautsprecher, aus dem leicht blechern Flamencogesang zu Gitarrenbegleitung erklingt. Mit den Knöcheln der linken Hand klopft er einen komplizierten durchbrochenen Zwölferrhythmus auf die Tischplatte und begrüßt entspannt vorbeigehende Bekannte, ohne je einen Takt auszulassen. Das Wasser im Glas pulsiert zitternd mit.
Es ist eine Szene, die geeignet wäre, einen Dokumentarfilm – oder auch einen Artikel – über die Flamencoszene in Katalonien einzuleiten. Aber um Gitarren, Gesang und fliegende Röcke wird es gar nicht gehen in diesem Text, der, hätte nicht noch der Herr mit dem Hündchen den Weg der Reporterin gekreuzt, ausschließlich unter dem Eindruck einer ganz anderen Musikszene entstanden ist.
Denn jedes Jahr im März schlägt die Stunde von Barcelona Obertura, einem Festival klassischer Musik, das mit prestigeträchtigen Großproduktionen lockt und für das ab und zu gern ein bisschen ausländische Presse eingeladen wird.
Vor ein paar Jahren haben sich das Opernhaus sowie die beiden Konzerthäuser der Stadt zusammengetan, um vermehrt KulturtouristInnen in die Stadt zu locken. Zwar mangelt es Barcelona nicht an Anziehungskraft für Reisende aus aller Welt, doch genau das war zunehmend zum Problem geworden: Die Altstadtgassen waren ständig verstopft von Touristengruppen, die Strände voll mit zechenden Partymenschen, viele Wohnungen zweckentfremdet als Airbnb-Unterkünfte.
Tourismus steuern
Schließlich ergriff die Stadtverwaltung unter der linken Bürgermeisterin Ada Colau, die bis 2023 im Amt war, gezielte Maßnahmen gegen Overtourism. Unter anderem wurde eine Obergrenze für die Anzahl der Hotelbetten im Innenstadtbereich eingeführt; neue Hotels dürfen nur noch in Randbezirken gebaut werden.
Man kann sich also gut vorstellen, dass die Initiatoren von Barcelona Obertura mit dem Konzept, im Bereich der klassischen Musik mehr internationale Strahlkraft zu entwickeln, offene Türen einrannten; denn KulturtouristInnen pflegen überdurchschnittlich viel Geld auszugeben und fallen in der Öffentlichkeit seltener durch unangemessenes Verhalten auf.
Allerdings hatten die Bürgermeisterin und ihr Team eine Bedingung, erzählt Festivalchef Victor Medem: Es gehe nicht an, nur ein Festival für eine zahlungskräftige internationale Klientel zu etablieren, hieß es, sondern man müsse auch den EinwohnerInnen Barcelonas etwas bieten. So wurde die Idee zu „Ciutat de Clàssica“ (Stadt der Klassik) geboren: Parallel zu den großen internationalen Produktionen, die Barcelona Obertura im März zeigt, findet alljährlich ein weiteres Festival statt, bei dem in der ganzen Stadt besondere Orte musikalisch bespielt werden – bei freiem Eintritt.
Perle des Jugendstils
Oft handelt es sich um Locations, die sonst für die Öffentlichkeit nicht ohne Weiteres zugänglich sind oder für deren bloße Besichtigung viel Geld bezahlt werden müsste – wie zum Beispiel für das von Antoni Gaudí entworfene Casa Batlló, eine Perle des katalanischen Jugendstils und einer der größten Touristenmagnete der Stadt. Wenn hier ein Konzert von Ciutat de Clàssica stattfindet, pflegen die Tickets innerhalb weniger Minuten ausgebucht zu sein.
Im Ausland weniger berühmt als Gaudí, als herausragender Vertreter des Modernismo für die Stadt aber fast ebenso wichtig ist der Architekt Lluís Domènech i Montaner, dem Barcelona unter anderem einen der schönsten Konzertsäle der Welt verdankt: den Palau de la Música Catalana, der zum Unesco-Weltkulturerbe gehört und in den Jahren 1905 bis 1908 für den Chor Orfeó Català erbaut wurde.
Mosaike aus Glas über Bachs Chorälen
Farbenfrohe Mosaike formen sich überall im Haus zu raumgestaltenden Elementen, schmücken Wände und Säulen. Ein gigantisches Glasmosaik in Kronleuchterform fungiert als Oberlicht für den Konzertsaal, tagsüber von natürlichem Licht gespeist und in hellen Farben leuchtend, nachts in dunkleren Tönen elektrisiert schimmernd. Zahllose große Keramikrosen schmücken die Saaldecke, und farbig gestaltete Glasfenster zu allen Seiten des Saals sorgen für sanftes, wohltemperiertes Licht.
Im Palau finden in erster Linie klassische Konzerte, aber auch Flamenco-Abende statt. Und just an jenem Abend im März, an dem die kleine journalistische Reisegruppe im Haus zu Gast ist, gibt es tatsächlich ein ganz besonderes Erlebnis: Jordi Savall und seine Ensembles La Capella Reial de Catalunya und Le Concert des Nations treten mit Bachs Johannes-Passion auf.
Es ist eine sehr intime, konzentrierte Version des Oratoriums: die historischen Instrumente nicht auftrumpfend, sondern ein bewegliches musikalisches Rückgrat für die Singstimmen; die Capella Reial mit genau zwanzig SängerInnen in beglückender klanglicher Gleichgewichtung besetzt; die Choräle musikalisch mit liturgischer Schlichtheit auf einzelne Linien gebracht.
Unzeremoniös begibt sich der Maestro nach Jesu Kreuzigung vom Dirigentenpult zur Gambe, um den Countertenor Raffaele Pe zur Alt-Arie „Es ist vollbracht“ ganz allein zu begleiten. Die Sprödigkeit des Männerdiskants und die weiche, etwas raue Tongebung der Gambe ergänzen und vereinen sich zu einem Klangbild tief verinnerlichter Trauer – dramaturgischer Höhepunkt und gleichzeitig Quintessenz dieser denkwürdigen Passionsdarbietung.
Der Zufall will es, dass in den Tagen des Pressebesuchs beim Festival fast ausschließlich Musik deutschsprachiger Komponisten zu hören ist. Eine eigenwillige Auffassung von Händels „Messias“, nämlich das Arrangement des Werkes durch Wolfgang Amadeus Mozart, wird im Opernhaus, dem Gran Teatre del Liceu, gespielt – in einer surrealistisch inspirierten szenischen Einrichtung von Robert Wilson, die er ursprünglich für die Mozartwoche in Salzburg entwickelt hatte.
Großes Highlight dieser Produktion ist die Sopranistin Julia Lezhneva – neben den ChoristInnen des Hauses, die ein Jahr lang daran gearbeitet haben, sich von einem Opern- zu einem Oratorienchor zu wandeln.
Puccini für die Pflanzen
Der sehenswerte Saal des Liceu hat mit seinen fünf Rängen annähernd Mietskasernenhöhe und fasst 2.222 Sitze, die zur „El Messies“-Premiere ausverkauft sind. Während des Corona-Lockdowns, als Menschen nicht in die Oper durften, waren es 2.222 Pflanzen, die diese Plätze einnahmen und exklusiv mit Puccinis „Crisantemi“ beschallt wurden.
Der dritte große Musiktempel Barcelonas heißt schlicht „L’Auditori“, das Auditorium, und gibt sich äußerlich provokant schmucklos als langgestreckte Schuhschachtel aus Beton und Stahl. Doch in dem 25 Jahre jungen Gebäude von Rafael Moneo verbergen sich hochmoderne Technik und mehrere Konzertsäle, deren größter eine Kapazität von 2.200 Plätzen hat. Hier treten die Düsseldorfer Symphoniker unter Ádám Fischer mit einer fulminanten Version von Mahlers 5. Sinfonie auf. Eine schöne Sache, für die man aber natürlich auch nach Düsseldorf fahren könnte.
Ein wirklich außergewöhnliches musikalisches Erlebnis dagegen bietet ein Konzert, das im Rahmen von Ciutat de Clàssica im Mies-van-der-Rohe-Pavillon stattfindet. Vier junge Musiker, die seit 2019 als Atenea Quartet gemeinsam auftreten, beleben das ikonische Architekturdenkmal (als deutscher Beitrag für die Weltausstellung 1929 erbaut) mit Streichquartetten von Britten, Purcell und zuletzt dem anspruchsvollen und selten gespielten Streichquartett op. 7 von Arnold Schönberg in einer atemberaubenden Performance.
Er habe schon ein paarmal versucht, dieses Werk ins Programm zu nehmen, erzählt Festivalleiter Victor Medem später, aber erst das Atenea Quartet habe die Herausforderung angenommen.
Auf die Frage, wie das umfangreiche kostenlose Konzertangebot von Ciutat de Clàssica überhaupt finanziert werde, zuckt Medem nur leichthin die Schultern: „Die Musiker sind alle jung und stehen noch am Anfang ihrer Karriere. Wir müssen also keine hohen Gagen zahlen.“ Und die öffentlichen Räume als Aufführungsorte gibt es ja umsonst. Was für eine absolut nachahmenswerte Idee.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Wahlprogramm der Union
Scharfe Asylpolitik und Steuersenkungen
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Scholz stellt Vertrauensfrage
Traut mir nicht
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt
++ Nachrichten zum Umsturz in Syrien ++
Neue israelische Angriffe auf Damaskus