Festival Tanz im August: Ein Spiel ums Überleben

In Berlin hat das Festival Tanz im August begonnen. Die Suche nach Utopien und die Entwicklung migrantischer Identitäten ist häufiges Thema.

Keinen Tanz in Ekstase, sondern Bewegungen in großer Verlang­samung gab es bei „Ausland“ von Jefta van Dinther zu sehen Foto: Jubal Battisti

Wie können wir zu einer Gesellschaft werden, die sich in größtmöglicher Freiheit selbst reguliert? Die Choreografin Mette Ingvartsen bekam da so eine Idee, als sie mit ihren Kindern Skatern in Brüssel zuschaute. Es war nicht nur die Geschwindigkeit und die Präzision, die sie faszinierten, sondern auch die hartnäckige Disziplin, mit der geübt wurde, wieder und wieder, Hürden und Schwierigkeiten zu meistern. Und nicht zuletzt die Offenheit, mit der erfahrene Skater und Neulinge zusammenkamen und ihr Miteinander organisierten. Die Idee für eine Choreografie mit Ska­te­r:in­nen und Tänzern entstand.

Mette Invartsens Stück „Skatepark“, in Berlin im Haus der Berliner Festspiele aufgeführt, bildete einen Höhepunkt auf dem Festival Tanz im August, das letzten Donnerstag begann. Es ist cool, lässig, ungeheuer schnell, mit Rampen geschickt platziert auf einer gar nicht so großen Bühne.

Manchmal entwickelt es einen Sog wie ein Karussell, dass die Zu­schaue­r:in­nen fast der Schwindel ergreift, wenn die Ska­te­r:in­nen und Rollschuhfahrerinnen miteinander und umeinander kreisen. Nie sah man zuvor, wie viel Spannung in den Pausen liegen kann, die am höchsten Punkt der Rampen vor der Wende gemacht werden.

Man sieht einer hohen Schule der Achtsamkeit im Aufteilen der Flächen und im Kurven umeinander zu. Man sieht den Spaß an der Herausforderung, sich in Sprüngen und Drehungen zu messen. Zwischen 11 und 35 Jahren sind die Prot­ago­nis­t:in­nen alt.

Jugendlicher Trotz

In die Bilder, die Mette Ingvartsen baut, fließt auch der Trotz einer jugendlichen Subkultur ein, in der Unabhängigkeit und Autonomie angestrebt werden. Die letzten Bilder ihrer Performance verweisen auf eine anarchistische Vergangenheit der Skaterszene, als es noch um die Eroberung von Straßenraum und von privatisiertem Raum ging.

Festival Tanz im August, Berlin, bis 31. 8.

Und wie in allen Stücken aus den ersten Tagen des Festivals, wurde auch hier die Musik live auf der Bühne gemacht. Zwei Rollschuhfahrerinnen und ein Tänzer singen, ein Gitarrist ist dabei, aber auch mit den Brettern selbst wird gehämmert, wie aus purer Lust am Krach.

Mette Ingvartsen war schon oft mit ihren Stücken in Berlin. Zum ersten Mal zum Festival Tanz im August ist die junge Choreografin Soa Ratsifandrihana, ebenfalls aus Brüssel, gekommen, deren Stück „Fampitaha, fampita, fampitàna“ von dem Gitarristen Joël Rabesolo begleitet wird.

Beide und die zwei weiteren Per­for­me­r:in­nen eint eine Geschichte der Migration in erster, zweiter und dritter Generation aus Madagaskar, Haiti und weiteren früheren Kolonien Frankreichs und Belgiens. Am Anfang zitieren ihre Rokoko-Kostüme die Kolonialzeit und ihr Tanz lehnt sich an höfische Menuette an. Bald aber folgen Funk, Soul und Disco in der Musik.

Symbolische Bilder

Szenen der sprachlichen Übungen wechseln mit langen Tanzsequenzen ab, in denen sie eine immer größere Leichtigkeit entfalten. Es gibt auch symbolische Bilder, das Denkmal eines Generals und Gouverneurs von Madagaskar (Joseph Gallieni) wird gestürzt. So hat das Stück einige Verweise auf den Umgang mit der kolonialen Vergangenheit, lebt vor allem aber vom freien Umgang mit schwarzen Musikstilen und minimalistischen Tanzmaterial.

Soa Ratsifandrihanas Stück war eine Deutschlandpremiere ebenso wie Tamara Cubas’ „Sea of Silence“. Auch ihr Stück, aufgeführt im Radialsystem, kreist um Migration, von Frauen vor allem, und um die Frage, wie sie die Verbindung zur Kultur ihrer Herkunft, zu Sprache und Kleidung, zu Geschichte und Mythen aufrechterhalten.

Die sieben Performerinnen, die Tamara Cubas (aus Uruguay) dafür gewonnen hat, sind aus Nigeria, Ägypten, Indonesien, Brasilien, Chile, Mexiko und Uruguay aufgebrochen. Sie alle sind starke Künstlerinnen, mit schönen und rauen Stimmen, die erzählend, singend und tanzend Teile ihrer eigenen Geschichten und Erfahrungen einbringen. Aber auch über die Vertreibung von Hexen und Ausgrenzung allgemein reflektieren.

Gebet, Bitte, Anklage, Manifest

„Sea of Silence“ ist ein Stück mit ungeheuer viel Text, der in deutsche und englische Untertitel übersetzt hinter den Tänzerinnen vorbeirauscht. Es gibt den Gestus des Gebets, der Anrufung von Göttin und mythischer Heldin, der Bitte um Schutz, aber auch die wütende Anklage, die Forderungen eines Manifests.

Sea of Silence von Tamara Cubas Foto: Raynaud de Lage

In einigen Momenten wünscht man sich, das Bündel des Leids, das diese Frauen durch dieses Stück tragen müssen, wäre nicht ganz so breit geschnürt, denn so wird ihre feministische Argumentationskette teils sehr pauschal. Aber dieser Mangel fällt dann doch wenig ins Gewicht gegenüber der Stärke der choreografischen Bilder.

Denn vor allem die Körper erzählen von den Prozessen der Transformation, von der Trauer zum Aufbruch, von der Wut zur Ermutigung, von der Ausgrenzung und Vereinzelung zur Gruppenbildung. Es sind die Bewegungen, die sie zusammenbringen, mit der sie sich als Gruppe hinter jede Einzelne stellen und sie als Chor begleiten.

In den erzählerischen Splittern, die Tamara Cubas ausgewählt hat, stellt sie vor allem den Ungehorsam der Frauen aus, die ohne das Brechen von Regeln, die sie unter der Knute ausbeutender Verhältnisse hielten, nie aus diesen herausgekommen wären.

Bevorstehende Kürzungen

Ricardo Carmona ist zum zweiten Mal der Kurator des Festivals, das zum 36. Mal stattfindet. In seiner Rede zur Eröffnung im Hebbeltheater stellte er die Migration – „Germany is a fabric of migration“ – als treibende Kraft für kreative Prozesse und Humanismus heraus. Sein Programm suche nach optimistischen Perspektiven für die Zukunft.

Annemie Vanackere, Intendantin des Hebbeltheaters, musste in ihrer Rede allerdings auch darauf verweisen, dass ihrem Haus und damit dem Träger des Festivals vonseiten der Kulturpolitik des Bundes und vonseiten des Berliner Senats Kürzungen der Förderung bevorstehen. Viele in langen Jahren mühsam aufgebaute Strukturen in der freien Szene, zu der der Tanz mehrheitlich gehört, bangen um ihren Fortbestand.

Für fast alle auf dem Festival gezeigten Stücke müssen viele Partner als Produzenten zusammenkommen. An solchen Prozessen arbeitet seit vielen Jahren das Bündnis internationaler Produktionshäuser, dem jetzt im Haushaltsentwurf für 2025 die Förderung gestrichen wurde. Dabei sorgt das Bündnis für Beweglichkeit und Nachhaltigkeit und eine bessere Nutzung von Ressourcen. Hier zu sparen, ist der falsche Ansatz.

Monumentale Hallen

Der Choreograf Jefta van Dinther lebt in Stockholm und Schweden. Wer als Schwede etwas Außergewöhnliches machen wolle, gehe dafür ins Ausland, so erklärte er augenzwinkernd den Titel seines Stücks „Ausland“. Er bespielt damit das Kraftwerk Berlin, neben Techno-Clubs gelegen. In den monumentalen Hallen ist es dunkel zwischen den Betonpfeilern, teils liegen Matratzen auf dem Boden, bewegliche Boxentürme werden hin und her geschoben.

Sein Stück reflektiert verschiedene Fluchten aus der realen Welt und Übergänge in eine virtuelle. Auf eine hedonistische Clubszene, sexuellen Kontakten nicht abgeneigt, spielen die vielen ineinander verknäulten Körper auf den Matratzen an; aber dann ist der Umgang miteinander doch viel mehr ein sorgender, mütterlicher, umfangender.

Statt dem Tanz in die Ekstase gibt es Bewegungen in großer Verlangsamung, der Fluss der Zeit selbst scheint sich zu dehnen, wenn eine Gruppe von Tänzern sich Zentimeter um Zentimeter vorwärts schraubt. Der elektronische Sound ist melancholisch, die Singstimmen dazu klingen beinahe nach Madrigalen.

Funktionsweise des Menschen

Eine Tänzerin performt einen Cyborg, eine sehr menschenähnliche Figur, die an den anderen aber erst die Funktionsweise des Menschen erkundet. Ihre Neugierde, wenn sie einen Mann auszieht, ist zuerst befremdlich, dann auch komisch.

Auf einer anderen Etage läuft ein Video aus einem Computerspiel. Unentwegt rennt eine kleine Figur durch eine gigantische Landschaft von Industrieruinen. Sie muss in dieser postapokalyptischen Umgebung Schluchten überwinden, Feuern ausweichen, darf nicht in Pressen geraten, oder in rotierende Sägeblätter. Hier sind die Maschinen der Feind. Irgendwann mischt sich Jefta van Dinther in diese Bilder ein, lässt die Figur über seinen Körper laufen, passt sich den Bewegungen der Maschinen an. Es ist ein Spiel ums Überleben. Aber jedem Absturz folgt ein Neuanfang.

Diese Performance, bei der man im eigenen Tempo zwischen den verschiedenen Stationen herumwandern konnte, war durchaus eine Entführung in andere Welten, bedrohlich, spielerisch, ambivalent.

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