Fehlende Aufarbeitung des Heim-Skandals: Die Reste der Haasenburg
In einem lange verlassenenen Haasenburg-Heim entdeckt ein Filmteam Fixiergurte und persönliche Akten. Anzeige wegen Datenschutzverstoß ist gestellt.
Die drei Haasenburg-Heime wurden 2013 von der brandenburgischen Jugendministerin Martina Münch (SPD) geschlossen, nachdem eine Untersuchungskommission ihren Bericht vorlegte, in dem die von der taz recherchierten Vorwürfe bestätigt wurden. In der Kritik standen drangsalierende Regeln, eine zu lange währende Isolation auf dem Zimmer, körperliche Begrenzungen der Kinder und Jugendlichen mit teils schmerzenden Grifftechniken und – bis zu deren Verbot Ende 2009 – die Fixierung mit Fixiergurten auf Liegen.
Für Münch war das Heim „nicht reformierbar“. Für die Schließung spreche nicht nur der „hochproblematische Umgang“ mit den jungen Bewohnern, sondern besonders deren „latente Gefährdung“ durch „jederzeit mögliche körperliche Zwangsmaßnahmen“. Zugleich gab es damals an die 70 Strafanzeigen von Betroffenen, die jedoch bis auf wenige Ausnahmen eingestellt wurden.
Betroffene würde gern ihre Akten sehen
Christina Witt, die auch 2014 rund 40.000 Online-Unterschriften gegen die damals kurzeitig drohende Wiedereröffnung sammelte, erkundigte sich dieses Frühjahr, ob es Neues zur Haasenburg gibt. Und fand auf Youtube ein Video mit dem Titel „Das H*rror-Kinderheim!“. Ein Filmteam, das unbekannte Orte, „UnknownWorlds“, aufspürt, hat bereits im November 2020 einen Streifen ins Netz gestellt, der das ehemalige Haasenburg-Haus in Jessern am Schwielochsee zeigt.
Die Filmer führen den Zuschauer dabei in den Keller, wo ein Karton mit braunen Fixiergurten zu sehen ist, den sie laut ihrem Bericht in einem mit Brettern abgedeckten Schacht fanden.
Außerdem finden sie beim Gang durch das gespentisch leere Haus, das zu DDR-Zeit ein Gästehaus des Rats der Stadt Cottbus war, Akten von Mitarbeitern und Jugendlichen, etwa einem Mädchen, das weglief, sowie die Röntgenbilder, die zum Alter der Ex-Insassen passen.
Christina Witt, die heute 24 Jahre alt ist, hatte mit 19 ihre Jugendamtsakten bekommen. Sie war in mehreren Heimen, davon ein Jahr in der Haasenburg. „Ich wunderte mich damals, dass deren Akten fehlten“, sagt sie. Sie würde sie eigentlich gern haben. Gudrun Gärtner*, eine Bekannte von Witt, erstattete am 14. Mai bei der Internetwache Berlin Anzeige wegen Verletzung des Datenschutzes und verwies – es gibt noch ein weiteres – auf die Videos.
Die taz erhielt eine Kopie der Anzeige. Der Fund schien nicht uninteressant. Hatte die taz im Frühjahr 2014 doch Hinweise erhalten, dass im Keller des Heims Jessern Unterlagen oder gar eine Fixierliege versteckt oder eingemauert sein könnten und dies seinerzeit an die Staatsanwaltschaft Cottbus weitergegeben. Denn die war laut einem Bericht der Märkischen Onlinezeitung aus Januar 2014 dem Vorwurf auf der Spur, ob trotz des Verbots auch nach 2009 noch Kinder und Jugendliche auf Liegen festgeschnallt wurden. Hatte sie doch auf einer Liege DNA-Spuren genommen, die einem Jungen zuzuordnen war, der Anzeige erstattet hatte. Doch auch von dieser Ermittlung hörte man nichts mehr.
Als die taz vor wenigen Tagen bei der Pressestelle der Staatsanwaltschaft anrief, waren dort weder die Filme noch Gärtners Anzeige bekannt. Gefragt nach dem Hinweis von damals sagt Sprecherin Petra Hertwig, man habe damals den Keller durchsucht. „Da war nichts eingemauert. Alle Akten, die wir brauchten, haben wir bekommen.“ Wegen der Anzeige rät sie, die Polizei zu fragen.
Polizei holte 96 Umzugskisten mit Akten raus
Ein paar Telefonate später landen wir bei der Polizei Dahme-Spreewald. Und die kennt Gärtners Anzeige. Die sei einem Verfahren zugeordnet worden, das es längst gibt. „Der Sachverhalt war hier bekannt. Wir waren dort, mehrmals“, sagt ein etwas genervter Beamter. Am 9. August 2019 habe man 96 Umzugskisten mit Akten aus dem früheren Heim geholt. Die stünden jetzt bei der Staatsanwaltschaft. Nach einer neuen Anzeige vom Juni 2020 sei man noch mal hin und habe zweieinhalb Kisten mit Akten geholt. Die stünden auf der Wache im Keller.
Der Beamte nennt das Aktenzeichen. Dieses sagt nun auch der Staatsanwaltschaft etwas. „Das Verfahren dürften wir haben“, sagt Sprecherin Hertwig. Allerdings sei die zuständige Staatsanwältin gerade im Urlaub. Die beiden Videos böten keinen Anhaltspunkt für eine Straftat, da darin nicht ersichtlich sei, ob die Akten von außen frei zugänglich waren, so Hertwig. Auch inhaltlich von Interesse sind die Funde offenbar nicht. Man habe damals mitgenommen, was man für die Strafverfahren brauchte.
Der Anstoß für die Aktenaktion kam wohl von der Landesdatenschutzbeauftragten. Denn das Haus am See, das als das härteste der drei Haasenburg-Heime galt, hatte offenbar längst einen anderen Besitzer. Laut Medienberichten wollte dort 2015 eine Firma Flüchtlinge unterbringen. 2019 berichtet das Magazin reise vor9, dort sei ein Luxushotel mit 130 Zimmern geplant. Betreiberin wäre die Seelandhaus GmbH. Nach Auskunft des Landkreises Lieberose ruht der Vorgang derzeit. Die für ein Hotel nötige Nutzungsgenehmigung sei noch nicht erteilt.
Astrid Oehme vom Büro der Datenschutzbeauftragten sagt, dort habe man Anfang August 2019 den Hinweis auf die Akten erhalten und dann die Polizei in Lübben informiert. Da die Ex-Heimbetreiberin, die Haasenburg GmbH, der neuen Eigentümerin das Gebäude offensichtlich „mit hoch sensiblen Sozial- und Gesundheitsdatensystem“ überlassen habe, gebe es den Anfangsverdacht der Verletzung der Schweigepflicht nach Paragraf 203 Strafgesetzbuch. Zudem gab es den Verdacht, dass sich der Verantwortliche die Entsorgungskosten erspart haben könnte, was ein Verstoß gegen das Bundesdatenschutzgesetz wäre. Nach Oehmes Kenntnis läuft das Verfahren noch.
Auch das brandenburgische Bildungsministerium weiß vom „Fund der Unterlagen“. Die Heimfirma selbst, die inzwischen in Thüringen sitzt, reagierte nicht auf Fragen, ebenso wenig die Hotelfirma.
Ein Mitglied der Videofilmer Unknownworlds, das nicht genannt werden möchte, sagt, dass auch im Sommer 2020 in Keller und Nebenhaus Akten lagen, darunter Krankschreibungen und Protokolle. Folglich hatte da die Polizei noch nicht alles geholt. Die Fixiergurte seien teilweise im Karton unter Brettern gewesen, „hingen vereinzelt aber auch an einer Wand im Keller“. Das Gebäude habe offen gestanden, Türen und Fenster im Erdgeschoss seien kaputt gewesen. „Während unseres Besuchs kamen auch andere ins Gebäude und haben es sich angeguckt.“
Ex-Heimkinder fordern Opferrente
Für ehemalige Insassen ist das Video von Bedeutung, darauf deuten die vielen Kommentare auf Youtube. Eine junge Frau schreibt, wie schlimm sie die Fixierung fand. Eine andere berichtet, sie habe eine Traumadiagnostik gemacht und erreicht, dass sie eine Opferrente bekommt. Doch das scheint ein Einzelfall zu sein. „Ich habe Opferrente beantragt und es wurde abgelehnt“, sagt Ex-Bewohner Marcel Ramminger. „Es müsste eine Opferrente geben für alle“, sagt sein früherer Mitinsasse Renzo Martinez. „Die meisten von uns sind arbeitsunfähig und dauerhaft traumatisiert“. Auch Jonas L. hatte zu Lebzeiten Entschädigung gefordert.
Die Linksfraktion in Brandenburg nimmt diesen Fall zum Anlass für eine Anfrage. Denn auch wenn Münch sich 2013 bei den Jugendlichen entschuldigte, erhielten sie keine Entschädigung. „Wer in den Heimen der Haasenburg Zwang, Gewalt oder Misshandlungen erlebte, leidet bis heute“, sagt die Abgeordnete Isabelle Vandre. Das Land schulde den Opfern umfassende Aufklärung. „Außerdem erwarte ich, dass sie für ihr Leid entschädigt werden.“
*Name geändert
Aktualisierung: Nach Erscheinen dieses Textes online und in der Printausgabe der taz am 6. August antwortete der Anwalt der Haasenburg GmbH, Jens Hennersdorf, doch noch auf die Fragen der taz. Die GmbH existiere noch. Ob sich das Gebäude in Jessern noch in ihrem Besitz befinde, sei „ohne Relevanz“ und unterliege der anwaltlichen Schweigepflicht. Die Filme zeigten entweder, „wie kriminelle Menschen widerrechtlich ins fremdes Eigentum einbrechen und das dann filmen und posten“ oder seien „fake-news“ und „so oder so keine schöne Sache“. Auf die Frage, ob Unterlagen ehemaliger Bewohner aufbewahrt werden, um Aufbewahrungsfristen einzuhalten, schreibt der Anwalt, er werde sich hüten, Orte für weitere Einbrüche bekannt zu geben. Bei der Aufbewahrung würden gesetzliche Vorgaben „selbstredend beachtet“.
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