„Faust“ in Wien als Groupie-Sause: Schnelldurchlauf durch den Stoff
Am Wiener Volkstheater inszeniert Kay Voges „Faust“. Die Aufführung wirkt wie ein popkulturelles Ratespiel in nie enden wollender Heiterkeit.
Die Rede vom Autor als „Kollektivwesen“, Goethes Kritik vor der Zeit am bürgerlichen Subjektbegriff, nimmt dieser Abend für zweieinviertel Stunden als Aufforderung zum Sammeln und Samplen von Bildern und Tönen, das in jeder zufälligen Ähnlichkeit schon Wahlverwandtschaft vermutet und immer dann einsetzt, wenn das Textaufsagen die medial konditionierte Aufmerksamkeitsspanne zu verlieren droht.
„Mehr Licht!“, die anekdotisch überlieferten letzten Worte des Geheimen Rats bleiben unvermeidlich, denn Kay Voges hat sich der Fotografie ergeben. Nicht Erdgeist, Pudel oder Teufel sind die Spielmacher, nicht mal Gott selbst, der hier als ein plasmaartig waberndes Rotlicht wie „Hal“, der selbständig denkende Bordcomputer in Stanley Kubricks „2001“, mitspielt, sondern Marcel Urlaub.
Projektionswand ist der Star des Abends
Der Mann mit der Goldkette, sie wird später als Streetcredibility verheißendes Requisit mehrfach wiederkehren, macht mit seiner auf maximale Empfindlichkeit gestellten Digitalkamera, einem gleißenden Blitzgerät und dem drahtlosen Übertragungssystem fortlaufend Aufnahmen, die nach kurzer Latenzzeit bühnenfüllend projiziert werden. Die ersten Schüsse gehen ins Publikum. Das blendet, ist aber vorerst lustig, auch wenn man sich ungefragt im Großformat entgegensieht. Glotzt nicht so romantisch! Eben.
Die zentrale Projektionswand, immer wieder aus dem Schnürboden herabgelassen, ist der eigentliche Star des Abends. Die human-generierten Zeichenfolgen drängt sie zu Mikrofonen an den Bühnenrändern. Das erlaubt einen Schnelldurchlauf durch den Stoff. Vorne deklamiert einzig und in lobenswert unpathetischem Ernst Andreas Beck als alter Faust dessen existenzielle Krise. Der mittlere Faust (Frank Genser) gibt auf der Leinwand die Studierstube als Folge cooler Filmstills à la Nouvelle Vague. Irgendwann tragen alle Andreas-Beck-Silikonmasken.
Auerbachs Keller und Hexenküche wachsen in einem Cosplay-Setting zusammen. Als Gretchen auftaucht und Faust (Claudio Ganske) verjüngt zum Exemplar einer dieser X-Y-Z-Generationen geworden ist, wandelt die Bildästhetik sich in den shabby chic der Pop- und Modefotografie der frühen 1990er Jahre: Bewegungsunschärfe, Gegenlichtreflexe, Körnung und ausgerissene Spitzenlichter.
Idee vom guten Leben
Gretchens gibt es bis zu vier, Gitte Reppin und Friederike Tiefenbacher spielen die Kerkerszene im Netflix-zertifizierten orangen Knastdrillich, Hasti Molavian singt schön, aber vergeblich vom „König von Thule“. Margaretes Begegnung mit Sexualität ist in dieser den Rock-’n’-Roll-Machismo affirmierenden Aufführung nur als Groupie-Sause mit zu viel Marschierpulver vorstellbar. Die Idee vom guten Leben, die die Teufel, Uwe Rohbeck mit gestutzten Satanshörnern und Lavinia Nowak im milden Fetisch-Outfit, dem Helden anempfehlen, reicht nicht weiter als Sonne, Strand, Lottosechser und nicht mehr arbeiten müssen.
Wenn der uralte Faust (Uwe Schmiederer) – nach schnellem Vorlauf zum Ende des zweiten Teils – blind sehend, weil als Sehender blind, vor seinen in der Existenz ungewissen Schöpfer tritt, dürften viele schon ausgestiegen sein.
Der Strom der Bilder, die Mühen der Beschallung von Carl Orff bis Dolly Parton bleiben in der Fülle Ornament, das nur illustriert, nie in den Text eindringt, Fragen stellt oder neue Sichtweisen abverlangt. Medienrezeption, die unique selling proposition von Voges’ Theater, erschöpft sich an diesem Abend in der digitalen Aufrüstung der Bühnentechnik zur Überwältigung der Sinne. Nimmt man das alles weg, bleibt dieser „Faust“ biedere Aufsagerei.
„Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen“, das Zitat aus dem Vorspiel auf dem Theater, wendet sich hier zur ironischen Selbstimmunisierung gegen jeden Widerspruch. Der „Direktor“ (Uwe Schmiederer) wirbelt nicht nur am Anfang über die Szene und stachelt auf zu allem, was beliebt zu machen scheint.
Unterwerfung aus freien Stücken
Der Dichter gibt verdattert nur zarte Gegenrede. Sich der Affirmation widersetzen, das ist so 20. Jahrhundert. Für die zynische Vernunft der Kulturindustrie liegt Klugheit in der Unterwerfung aus freien Stücken. Warum tut man sich diese unerhörten Sätze aus fernen Zeiten überhaupt an, wenn man aus ihnen keinen Widerspruch mehr schöpft zur Art und Weise, wie wir als Gesellschaft unsere Leben leben? Wozu überhaupt die ganze Mühe mit dem Theater, wenn’s nur um Spielmarken geht?
Dieser „Faust“ wird vermutlich keine überregionalen Preise gewinnen. Das haben aber einige Produktionen des Wiener Volkstheaters in der Spielzeit zuvor, ausgezeichnet durch Einladungen etwa zum Theatertreffen, die sich jedoch in Teilen zumindest weniger den Alltagsroutinen des Repertoiretheaters als der Substanzauffrischung im Austausch mit einer nicht mehr ortsgebunden agierenden freien Szene verdanken.
Trotzdem greift es zu kurz, den Abend nach altem Brauch einfach zu verreißen, ist er doch geradezu ein Lehrstück für die Krise des Stadttheaters. Für die vielen vergeblichen Versuche, sich im Angesicht sinkender Zuschauerzahlen mit Spiegelfechtereien gegen eine verblichene bürgerliche Hochkultur, die ihre hegemoniale Position längst eingebüßt hat, einen verspäteten Distinktionsgewinn zu verschaffen.
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