Audiowalk im Wiener Volkstheater: Erkundungen im Sperrbezirk
Ganz allein auf der Bühne stehen: Stefan Kaegi ermöglicht mit „Black Box“ einen pandemietauglichen Besuch im frisch renovierten Volkstheater.
In Wien darf man jetzt wieder ins Theater gehen – wenigstens ein bisschen. Mit weißen Handschuhen, FFP2-Maske, einem Headset mit frisch gewaschenen Stoffüberzügen an den Ohren, Schritt für Schritt und streng nach den Anweisungen, die einem eine salbungsvoll freundliche Stimme vom vorproduzierten Tonträger einflüstert. Aber erst mal heißt es warten, auch wenn man sich rechtzeitig zum vereinbarten Termin in der Garderobe eingefunden hat. Operationsvorbereitungen dauern eben.
„Blackbox“ ist eine Tour per Audioguide, auf der Stefan Kaegi und Rimini Protokoll jede*n Zuschauer*in einzeln und in der Wahrnehmung auf sich allein gestellt durch nahezu alle Gewerke des Wiener Volkstheaters führen. Auf eine Wegzeit von genau 90 Minuten gerechnet, startet exakt alle fünf Minuten je ein*e Zuschauer*in.
Der Kritiker einer lokalen Tageszeitung wendet sich, nachdem er gerade eben hereingestürmt war, noch einmal von der Garderobentheke ab, setzt sich leicht verwirrt und wohl auch etwas mürrisch wieder hin. Berufliches Bedeutungsempfinden wird aus sanitätspolizeilichen Gründen erst mal auf die lange Bank beziehungsweise auf gepolsterte Garderobenstühle geschoben.
Wenn’s dann losgeht, hat man alle Hände und Füße voll zu tun, die Schritte in Länge und Frequenz so zu bemessen, dass es gelingt, die richtigen Türen im rechten Moment aufzustoßen. Der Parcours führt vom Kassenhäuschen über Garderoben, Requisiten- und Kostümwerkstatt, die Unterbühne, den Mief im Maschinenraum der Klimatisierung und endlich durch die Kulissen auf die Bühne, wo man sich im Lichtkegel der Spot-Scheinwerfer sogar ein wenig am Auswurf der Nebelmaschine berauschen könnte, wieder zurück in das Dunkel des Zuschauerraums
Rundgang mit Besuch im „Führerzimmer“
Gleich zu Anfang kommt man auch an einem Tisch mit den Hinterlassenschaften einer Konzeptionsprobe im dunkelgetäfelten, denkmalgeschützten „Führerzimmer“ vorbei, das 1938 im Haus eingerichtet wurde. Hitler hat es nie betreten.
Es gilt, eben unter Zeitdruck, viele Sinneseindrücke parallel zu verarbeiten. Mal blinkt ein Licht, in der Kostümwerkstatt rattern die Nähmaschinen und ein Ventilator lässt ein Seidentüchlein wehen. Warum riechen Theater, die mehrere Jahrzehnte in Betrieb sind, also alle, genau gleich? Der binaurale Höreindruck vermittelt ständig Schritte, die hinter einem herlaufen. Dialogfetzen, offenbar aus Interviews mit der Belegschaft des Hauses, geben sporadisch, aber durchaus nützlich Informationen zum jeweiligen Standort.
Ungewollt spielen die Proband*innen auf der „Black Box“-Tour Theater füreinander. Während ich mir gerade im Durchgang zum Souffleurkasten den Kopf anstoße, nimmt dieser Boomer mit schütterem Haar, dem ich in Normalzeiten offenbar berufsbedingt regelmäßig im Parkett begegne, im gleißenden Bühnenlicht tosenden Applaus aus seinen Kopfhörern entgegen.
Das hat alles viele charmante Momente wie diesen. Aber letztlich spricht die gescriptete Wahrnehmung auf ziemlich autoritäre Weise den Tourenden an. Man ist ständig außer sich, bei den Dingen, ständig in Bereitschaft, nie bei sich. Quick response statt Reflexion.
Sehnsucht nach der sozialen Dimension
So sehr hier die barocke Theatermaschinerie angeworfen wird – for your eyes only, entbehrt sie um so mehr das, was Theater sonst ausmacht. Es ist ja nicht das Hüsteln der Sitznachbar*innen, das man derzeit entbehrt, oder die derben Parfüm- und Rasierwassernoten, sondern schlicht die soziale Dimension.
Sie erst und nicht irgendwelche Inhalte auf der Bühne geben dem ganzen Aufwand ein politisches Moment. Mimesis findet im Zuschauerraum statt. Leute, die sich zu dieser Zeit an diesem Ort versammelt haben, imaginieren sich als ideale Repräsentation einer politischen Gemeinschaft. Sie handeln nicht, sondern spielen vielmehr in der Kontemplation Handlungsmodelle durch. Dass der Typ da oben im Licht Richard III. ist, glaubt sowieso keine*r.
Stefan Kaegi macht das Theater kurzerhand zum Museum seiner selbst. Das kratzt ein wenig an den Legitimationsdefiziten, die es im Licht einer postmodernen Repräsentationskritik ohnehin plagen. Das Kerngeschäft der Schauspielerei steht mittlerweile unter Ideologieverdacht. Eine Ästhetik des Performativen sucht Abhilfe im Authentischen. Im Modus der Authentizität aber ist das Theater nur eine Fabrik, die momentan besichtigt wird.
Die jüngste Baugeschichte des 1889 errichteten Volkstheaters legt dem Projekt noch eine Pointe drauf. Lange war das Haus das Schmuddelkind unter den Wiener Theatern, chronisch unterbudgetiert und dadurch in den Jahren außen wie innen heruntergekommen. Schließlich gingen die Verantwortlichen der Stadt die Sanierung an. Fertig wurde alles mitten im Lockdown.
Jetzt steht der gründerzeitliche Theaterbau in seiner makellosen Pracht in der Silhouette der Stadt – außer Betrieb und als gebaute Frage: Warum sucht das Theater des 21. Jahrhunderts seine Wahrheiten so beharrlich in Raumkonzepten und -hierarchien des 19. Jahrhunderts?