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Faule Regierungsmitglieder1,6 Kilometer mit dem Dienstwagen

Unsere Kolumnistin wurde Zeugin, wie die neuen Regierungsmitglieder bei leichtem Sonnenschein den Weg vom Bundestag bis Bellevue mit dem Auto fuhren.

Zweitwahlgangskanzler Friedrich Merz verlässt das Schloss Bellevue Foto: Andreas Friedrichs/imago

N eulich war ich mit dem Nachwuchs Eis essen. Wir radelten drei Kilometer zu einer der besten Eisdielen der Stadt auf der anderen Seite des Tiergartens. Als wir am Schloss Bellevue vorbeikamen, standen auf dem Gehweg Polizisten. Ich fragte, was los sei. „Wir haben einen neuen Bundeskanzler.“ Oh, dachte ich, vor drei Stunden hieß es noch Pleiten, Pech und Pannen – und nun gibt es schon die Siegerurkunde.

Wir gingen unser Eis essen – und sahen auf dem Rückweg den Vorplatz des Präsidentenschlosses mit Autos zugeparkt. Das erste fuhr vor, Bellevues Tür öffnete sich, der frische Zweitwahlgangskanzler trat heraus und stieg ein. In den folgenden Minuten stand ich und betrachtete eine Menge abfahrender Pkws, die von den Kindern hinsichtlich Marken, Ausstattungsmerkmalen und Preis kommentiert wurden.

Ich selbst kenne bei Autos ja nur drei Kategorien: klein, groß und alberne Gebilde, bei denen ich immer denke, jemand hätte mit einer Luftpumpe ein normales Auto comicmäßig in Größe und Dicke verzerrt. Die vorbeidefilierenden Fahrzeuge waren alle groß und kosten um die hunderttausend Euro. Nacheinander bogen sie Richtung Bundestag ab.

Ein wahrhaft historischer Moment. Bundestag und Schloss Bellevue liegen nur 1,6 Kilometer auseinander. Fahrstrecke, nicht Luftlinie. Und wir sahen mit eigenen Augen, wie die knapp zwanzig Menschen, die in den kommenden Jahren politische Entscheidungen in Deutschland umsetzen werden, bei leichtem Sonnenschein und Frühlingstemperaturen gleichzeitig und doch einzeln unterwegs waren: 1,6 Kilometer hin, Urkunde bekommen, 1,6 Kilometer zurück.

Und anschließend den Radverkehrsbeauftragten abschaffen

Jetzt können wir bezeugen, dass diese Crème de la Exekutive bei allem versammelten Sachverstand und trockener Analyse nicht auf die wirtschaftliche Idee gekommen ist, einfach einen Bus zu nehmen. Oder zumindest Fahrgemeinschaften zu bilden. Oder mit dem Fahrrad zu kommen.

Letztes Mal klemmte mit Cem Özdemir zumindest ein Minister seine Ernennungsurkunde auf den Gepäckträger. Und bewies damit, dass die Strecke auch aus eigener Kraft, in eigener Leistung bewältigbar ist. Die derzeitigen Kabinettsmitglieder brauchten für diesen höhenmeterlosen Biobike-Weg nicht nur jeweils ein Auto im Wert zweier durchschnittlicher deutscher Bruttojahresverdienste, sondern sogar einen Fahrer! Um anschließend zu einer ersten Sitzung zusammenzukommen und den Radverkehrsbeauftragten abzuschaffen. Radverkehr ist jetzt Chefsache.

Ich sehe da Challenge-Potenzial. König Abdullah aus Saudi-Arabien ist zum Beispiel mal die 90 Meter vom Adlon zum Brandenburger Tor mit dem Auto gefahren. Er hat damit bewiesen, dass es keinen Weg gibt, der zu kurz wäre, um nicht im eigenen Auto zurückgelegt zu werden. An der Bellevue-Ausfahrt musste der Kanzler übrigens stoppen: Eine Frau mit Kind im Lastenrad pedalierte auf dem Radweg vorbei. Vielleicht fliegt Merz das nächste Mal besser per Heli ins Bellevue.

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Kerstin Finkelstein
Dr. phil, Expertin für Verkehrspolitik und Migration. Studium in Wien, Hamburg und Potsdam. Volontariat beim „Semanario Israelita“ in Buenos Aires. Lebt in Berlin. Fährt Fahrrad. Bücher u.a. „So geht Straße“ (Kinder-Sachbuch, 2024), „Moderne Muslimas. Kindheit – Karriere - Klischees“ (2023), „Black Heroes. Schwarz – Deutsch - Erfolgreich“ (2021), „Straßenkampf. Warum wir eine neue Fahrradpolitik brauchen“ (2020), „Fahr Rad!“ (2017).
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11 Kommentare

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  • Es ist vielleicht auch ein Unterschied, ob man mit dem Rad zum Biergarten fährt, wo es egal ist wie man aussieht, oder ob man im Anzug und Krawatte zu einem solchen Staatstermin fährt, wo man nicht unbedingt durchgeschwitzt und mit vom Helm zerzausten Haaren ankommen will.

  • das auto ist der götze der männer, die für die auto-+rüstungsindustrie, die hochfinanz + den rest der kapital-bagage unterweg sind.



    zu fuß gehen würde für die bedeuten:

    es gibt auch noch andere fortbewegungsarten, oder:

    soli-erklärung für den verein FUSS. geht gar nicht.

    radfahren ist was für grüne.

    nur heli ist noch besser als auto - + sooo schön laut + teuer (für otto normalverbraucher).... die kosten zahlen eh die steuereinzahlenden (+ das ersparen sich ja viele großkapitalisten durch sich arm rechnen lassen).

  • Was haben Sie erwartet von Regierenden, die in ihrem Koa-Vertrag den Klimaschutz mit ein paar dürren Sätzen abhandeln? Immerhin ist Merz nicht mit seiner Diamond gekommen...

  • Ein Sonderbus der Berliner Verkehrsbetriebe wäre wahrscheinlich auch gespendet worden.

    Das Sicherheitsargument ist dabei leider auch im Raum, so sehr ich einen Radpulk als das bessere Zeichen gerne gesehen hätte. Im Tiergarten ließ auch schon mal Putin-Russland einen Tschetschenen erschießen. Traurig ist die Abnabelung vom echten Leben dabei schon.

  • Es war im Jahr 2022, grosse Kundgebung (ca. 3000 Menschen) vor dem Bundeshaus in Bern. Auf offener Bühne spricht u.a. der schweizer Bundespräsident Ignazio Chassis. Nirgendwo auf dem Platz "Security" oder Polizei. Nach seiner Rede spaziert Chassis einfach so zu Fuss zurück ins Bundeshaus...



    Am nächsten Tag grosse Anti-Kriegs-Demo im "Studentenviertel" von Bern - ein paar Polizisten stehen herum, alle beinahe in meinem Alter (also "alt"...), ohne Waffen und gelben Warnjacken mit Aufschrift "Polizei"...



    Monate später ein Prozess in Bern gegen eine Rockergang. Vor dem Gericht rotten sich Hells Angels und Bandidos zusammen. So schnell konnte man gar nicht schauen, wie da schwer bewaffnete Polizei-Einheiten für Ordnung sorgten...



    In manchen Ländern hat man halt Sinn für Verhältnissmässigkeit...

  • Absolut richtige Forderung, wenn die Welt so wäre, wie ich sie gerne hätte. Leider ist das nicht so eine Welt. Da wir aber tagtäglich sehen können, dass es zu viele Menschen verschiedenster politischer, religiöser Ausrichtungen gibt, die Ihren Unmut durch Gewalt ausdrücken wollen, kann ich die paar Meter in der sicheren Limousine nachvollziehen. An der Stelle bin ich froh selbst nur mit dem allgemeinen Lebensrisiko leben zu müssen.

    • @Tepan:

      Ein passend gepanzerter Bus hätte sich sicher auch finden lassen.

      • @Tetra Mint:

        :) Stimmt, So eine Art "Airforce one" als E-Bus und auf deutsch.

      • @Tetra Mint:

        Wenn da nicht die alte Hausmenschenweißheit wäre, „lege nicht alle Eier in einen Korb“. Darum habe ich auch mal gelesen, dass die Spitzen der Verfassungsorgane nach Möglichkeit nie im selben Flugzeit reisen sollten –der Flugunfall von Smolensk 2010 bewies sogar warum.

        • @o_aus_h:

          Alle Spitzen der Verfassungsorgane im je eigene Flugzeug zu transportieren, würde die Flugbereitschaft der Luftwaffe vor unüberwindbare Probleme stellen. Wo doch z.B. schon ein AM froh sein, bis nach Australien und zurück zu kommen ;-).

  • Sie müssen bei Ihrer Kritik aber auch eines bedenken.



    Ob jemand diesen weg zu Fuß, mit dem Rad oder dem Auto zurücklegt bestimmt bei diesem Personenkreis immer noch und eigentlich nur die Bundespolizei, welche für den (Personen-) Schutz der Politiker zuständig ist. Klar kann man darauf bestehen, diese Strecke mit dem Rad zurückzulegen. Sollte dann aber etwas passieren, wird die zuständige Staatsanwaltschaft ganz schnell feststellen, das der für die Sicherheit zuständige Beamte eine Vorladung erhalten wird. darauf hat keiner wirklich Lust, denn es könnte schon einen Karriereknick nach sich ziehen.

    Und das andere ist eher allgemein. Ob und mit was jemand eine Distanz, egal welcher Länge, zurücklegt, liegt immer noch und nur in dessen eigener freier Entscheidung. Auch wenn es nur 90 Meter zum Hotel oder 500 Meter zum Bäcker sind. Denn so lange man nicht unter Betreuung steht, gibt es keine rechtliche Grundlage, das jemand hier meint, etwas Vorschreiben zu können.