Fahrscheinkontrollen in Hamburg: Social Profiling im Nahverkehr?
In den ärmeren Stadtteilen Barmbek, Billstedt und Veddel gab es 2022 die stadtweit meisten Fahrscheinkontrollen. Die Linke vermutet eine Strategie.
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Die verkehrspolitische Sprecherin ihrer Fraktion fragte den Senat nach der Anzahl der Kontrollen speziell an der Station Veddel sowie generell an Hamburger Haltestellen, ebenso nach den Kriterien, nach denen die Kontrollen stattfinden. Es ging ihr um Groß- beziehungsweise sogenannte Abgangskontrollen: Kontrollen also, bei denen viele Fahrkartenprüfer:innen an den Ausgängen der Stationen stehen und alle Menschen, die hinaus wollen, kontrollieren. Regelmäßig bemängeln Menschen die Ruppigkeit und mangelnde Sensibilität bei den Kontrollen.
Der Senat antwortet nun, dass während der Coronapandemie die Kontrollen reduziert stattgefunden hätten, um „Stau- und Pulkbildung“ möglichst zu vermeiden. Nun müsse wieder vermehrt kontrolliert werden, weil mehr Menschen ohne Fahrschein unterwegs seien als vor der Pandemie. Generell wolle der HVV alle Linien und Stationen mindestens einmal pro Jahr kontrollieren.
„Die Art und Häufigkeit der Kontrolle“, schreibt der Senat, „richtet sich nach Anzahl der zur Verfügung stehenden Prüfpersonale, dem Fahrgastaufkommen, Rückmeldungen vom Fahrpersonal und Beschwerden von Kund:innen sowie den Ergebnissen aus vorangegangenen Kontrollen auf diesen Linien beziehungsweise Haltestellen.“
Erstaunlich ist allerdings die relative Dichte der Kontrollen an Haltestellen, die in ärmeren und Randgebieten liegen und eine Fokussierung auf das letztgenannte Kriterium nahelegen: Die drei am meisten kontrollierten Haltestellen waren 2022 Barmbek, Billstedt und Veddel; laut Sozialmonitoring der Stadt drei Gebiete aus statusniedrigen Clustern, also ärmeren Gebieten. „Menschen, denen das Geld fehlt, fahren oft notgedrungen ohne Fahrschein“, sagt Sudmann. „Ich habe die Vermutung, dass in ärmeren Stadtteilen wesentlich mehr kontrolliert wird, damit der HVV seine Erfolgsquote erreicht.“
HVV-Sprecher Rainer Vohl kann den Vorwurf nicht nachvollziehen: „Aus unserer Sicht findet keine Fokussierung statt. Wir haben nicht das Kriterium, sozial schwächere Stadtteile zu kontrollieren.“ Es gehe bei den Kontrollen schlicht darum, die Quote von Menschen, die ohne Fahrschein fahren, niedrig zu halten.
Verschärft wird die Situation dadurch, dass das Fahren ohne Fahrschein in Deutschland nach wie vor eine Straftat ist. Aus einer weiteren Anfrage Sudmanns vom Mai 2022 geht hervor, dass die Gerichte überproportional wohnungslose Menschen und Menschen, die Sozialleistungen beziehen, zu Geld- und Freiheitsstrafen wegen „Beförderungserschleichung“ verurteilen.
Jenen, die eine Geldstrafe nicht zahlen können, droht eine sogenannte Ersatzfreiheitsstrafe, von der allein in Hamburg wegen Schwarzfahrens jedes Jahr Dutzende von Menschen betroffen sind. Erst im Dezember vergangenen Jahres hatten 20 Menschen vor dem Hauptbahnhof unter dem Motto „HVV – Stop bullying the neighbourhood“ gegen die Kriminalisierung von Schwarzfahren demonstriert.
Sudmann kritisiert weiter: „Während bundesweit und auch in Hamburg die Diskussionen laufen, das Fahren ohne Fahrschein nicht mehr als Straftat gelten zu lassen und die Ersatzfreiheitsstrafe bei Nichtzahlung des Bußgeldes abzuschaffen, verfolgt der HVV weiter arme Menschen.“ Bereits seit Jahren fordert sie daher, den ÖPNV für arme Menschen kostenfrei zu machen.
Studien aus der Zeit des 9-Euro-Tickets haben gezeigt, dass genau jene Menschen, die es sich vorher nicht oft leisten konnten, den ÖPNV zu nutzen, etwa um Freund:innen zu besuchen oder einen Arzt zu erreichen, diesen rege nutzten.
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