Fahrradfahren in Krefeld: Unterwegs in der Radwüste
Krefeld gilt als „fahrradfreundliche Stadt“. Gleichzeitig liegt die Zahl der Fahrradunfälle weiter über dem Bundesdurchschnitt. Eine Spurensuche.
L os geht unsere Radtour am Krefelder Hauptbahnhof. Kaum 100 Meter sind wir gefahren, da gibt es schon die erste Stelle zum Staunen. Auf den Asphalt sind direkt nebeneinander zwei sehr enge Pfeile aufgemalt: der linke zeigt geradeaus, der rechte ist – für Linksabbieger. Wir kommen kollisionsfrei geradeaus durch und biegen dann ab in die Kölner Straße stadtauswärts.
„Erkundungstour“ heißt unsere gut halbtägige Reise. So nennt sie der Organisator Joachim Bienert, 59, ein Krefelder Radenthusiast. 15 Leute aus anderen NRW-Städten sind gekommen, um zu vergleichen und um testzustrampeln in einer Kommune, in der die Arbeitsgemeinschaft fußgänger- und fahrradfreundlicher Städte, Gemeinden und Kreise in NRW e. V. (AGFS) beheimatet ist. Und die sich selbst als „Fahrradfreundliche Stadt“ bewirbt.
Die Kölner Straße ist die typische Zubringerstraße, alt, teils noch mit Kopfstein, ausdauernd autobefahren, mit ständigen Lücken an Radwegstücken, Ampeln und Parkbuchten, Bäumen dazwischen, verrostenden Gittern an Verengungen, schlecht angebrachten Hinweisschildern. Weil hier sehr lange sehr wenig renoviert wurde, ist es wie eine Zeitreise in die 70er Jahre, mindestens. Die Radwegstücke sind meist eng, der Untergrund abgeplatzt, teils holprig und verrottet. Zudem scheinen Krefelds kräftige Baumwurzeln einen besonderen Drang nach oben zu haben. Wir hüpfen weiter.
Auf der Straße das übliche Verkehrsdesign: rechts die vielen parkenden Pkws in langer Reihe, von denen sich jederzeit eine Tür weit öffnen kann und links manchmal eng überholende Autos und immer die gefährlichen Straßenbahngleise, klassische Falle bei plötzlichen Ausweichmanövern. Für RadfahrerInnen ist das der Vorhof zur Hölle.
Für Lastenräder wird es schwierig
Rechtswidrige Stellen begegnen wir auf unserer Tour auch. Etwa auf dem ansonsten lauschigen Weg entlang der Rheinbahn zurück vom Vorort Fischeln Richtung Stadtmitte. Da sind betagte Quersperren überlappend angebracht, eigentlich nicht erlaubt. Da wird es mit dem Lastenrad eines Tourteilnehmers schon schwierig. Ein Stück weiter steckt er fest: Ein privates Bahngleis zu einem Fabriktor direkt daneben, abgeschottet mit einem rot-weißen Sperrlabyrinth.
Wir helfen das Lastenrad mühsam durchzuruckeln. „Hier kommt maximal zwei Mal wochentags ein Zug und der fährt dann nicht mal Schritttempo“, erklärt ein Einheimischer. Wir sind übrigens auf der offiziellen NRW-Radroute. Radwegstandards? „Das macht sowieso jede Stadt anders, weiß man doch“, sagt ein Kölner Mitradler bei einer kurzen Pause. „Hier macht es die Stadt Krefeld an jedem kleinen Straßenabschnitt anders“, antwortet Joachim Bienert.
Krefeld ist seit 1993 „Fahrradfreundliche Stadt“. Und man bewirbt sich emsig damit. Die Aufnahmekriterien in die AGFS sind maximal vage. Man muss die Situation der eigenen Stadt schildern und aus einem großen Kriterienkatalog Vorhaben benennen („Einbahnstraßen öffnen“, „Winterdienst“, „Kommunales Meldesystem für Mängel und Schäden“), konkrete Verpflichtungen gibt es nicht. Immer ist von Zielen die Rede und von Wünschen nach „optimalen Bedingungen für Nahmobilität“. Die AGFS prüft dann. Bislang wurde jeder Antrag bewilligt, manchmal, wie aus der AGFS zu hören ist, auch erst nach langjährigen Nachbesserungen der Anträge.
Südlich der Innenstadt fahren wir über die „Krefelder Promenade“, die irgendwann einmal Duisburg auf der anderen Rheinseite mit Mönchengladbach verbinden soll, beide rund 20 Kilometer entfernt. Die Promenade ist „ein Alleinstellungsmerkmal für Krefeld“, hatte der städtische Chefplaner Norbert Hudde einmal stolz gesagt. Wir biegen ein auf diesen Premiumradweg unterhalb der Bahntrasse: schick, gut drei Meter breit und außer uns unbefahren. Weil der Weg in einem menschenarmen Industriegebiet liegt und vor allem, weil er nach gut einem Kilometer vor einer alten Eisenbahnbrücke endet. „Voraussichtlich 2024/25“ gehe es voran, verkündet ein großes Schild. Bienert sagt: „Vermutlich wird man die Zweien durch Dreien ersetzen müssen.“
Das Problem: Die Brücke muss zuerst aufwendig repariert oder komplett erneuert werden; in einem Fall muss die Bahn zahlen, im anderen der Staat direkt. Verantwortlich fühlt sich keiner. Derweil liegen nervende schwarze Steine hier und da auf dem feinen Radasphalt. Sie stammen von einem losen Steinsaum, der den Rad- und den Fußweg rechts daneben abtrennt. „Warum pflanzt man stattdessen nicht einen Blühstreifen?“, fragt eine Mitradlerin. Und warum, fragen sich alle später an einem zweiten Promenaden-Abschnitt, haben an Kreuzungen selbst kleinere Straßen Vorfahrt und die Promenadennutzer müssen halten?
Organisator Joachim Bienert ist Elektro- und Heizungsinstallateur und macht, wie er erzählt, fast alle Touren zu seinen KundInnen per Lastenbike: „Das geht, kein Problem.“ Zur Vorbereitung unserer Tour sei er mehrere Wochenenden Straße für Straße abgefahren, abseits seiner Routinewege. So auch in dem Kreisverkehr im Stadtteil Oppum, der ganz neu angelegt wurde. Auf leuchtend rotem Radweg wird man in den Kreisel geführt, wo das Rot unmittelbar endet.
„Grotesk“, sagt einer und schüttelt den Kopf, „gegen alle Regeln und Vernunft sowieso“. Bienert erklärt, der Kreisverkehr sei wegen der neuen Supermärkte daneben privat geplant, finanziert und gebaut worden. „Und bei der Genehmigung hat die Stadt wohl nicht so genau hingeguckt.“ Die bestreitet das auf Nachfrage, alles sei abgestimmt und rechtmäßig.
Dass die Aufnahmekriterien in die AFGS derart lax sind und sich sogar Krefeld radfreundlich nennen darf, macht das nicht die Arbeitsgemeinschaft überflüssig? Die AGFS widerspricht vehement: Man müsse, sagt Vorstand Christine Fuchs, „den Geist der AGFS“ verstehen und die weiten Tätigkeitsfelder: „Beratung, Vermittlung von Fachpersonal, Coaching, Kongresse, Kontakte zum Land, Lobbyarbeit im Landtag.“ Sie spricht davon, sich „mit Visionen und der Hilfe der AGFS aufzumachen“ in eine nahverkehrsfreundlichere Gestaltung der Städte. Also Zukunft statt trister Gegenwart. „Mitgliedschaft in der AGFS ist keine Auszeichnung. Fahrradfreundliche Kriterien sind nicht messbar.“ Die Mitgliedschaft beinhaltet also eine Absichtserklärung, fahrradfreundlicher zu werden. Sich schon heute so zu nennen, ist Irreführung.
Die Existenz der AGFS als „kommunales Netzwerk“, so die Stadt, hat aber indirekte Vorteile. Das bestätigt auch der frühere Baudezernent einer großen Ruhrgebietsstadt, der nicht namentlich genannt werde will. Er sagt, er sei mit dem Label „Fahrradfreundliche Stadt“ an Landesfördermittel gekommen, „die ich sonst nie hätte bekommen können“. Verkehrsverantwortliche aus Aachen berichten, die Plattform sei sehr dienlich für den Erfahrungsaustausch mit KollegInnen aus anderen Städten. Damit sind aber noch keine Probleme an der Radwegführung beseitigt.
Nach sieben Jahren muss eine Verlängerung beantragt werden. Die AGFS prüft dann vor Ort mit einer, wie es heißt, „Bereisungskommission“ den Fortschritt der Infrastruktur. Sie dürfte bei der kurzen Reise in Krefeld auch am Langen Dyk gewesen sein, einer Straße im ländlichen Hülser Bruch, wo außer ein paar Bauernhöfen und einem Pferdestall fast nichts mehr ist. Nichts?
Doch, diese fünf Meter breite, schnurgerade und kaum befahrene Straße durch den Wald hat rechts und links einen frischen Radsicherheitsstreifen aufgepinselt bekommen. „Die sind quasi sinnlos, ohne Rechtswirksamkeit und ohnehin schmaler als vorgeschrieben“, sagt Bienert, „das hat die Stadt vor zwei Jahren gemacht, als die Verlängerung der Fahrradfreundlichkeit anstand. Da muss man halt was vorweisen.“
Krefeld ist nicht nur Sitz der AGFS, praktischerweise ist der Vorsitzende des Präsidiums gleich der eigene Oberbürgermeister: Frank Meyer (SPD). Beide Ämter hat er seit 2015 inne. Arbeitsgemeinschaft, OB und Verwaltung residieren im Rathaus der Stadt; die AGFS hat auch einen städtischen Telefonanschluss. Wie muss man sich das dann vorstellen: Alles eins? Kontrolliert und begutachtet sich Frank Meyer selbst? Nein, lässt er wissen, als AGFS-Repräsentant habe er auf die Arbeit der unabhängigen Auswahlkommission „keinerlei Einfluss“. Und über seine Stadt: „Uns ist bewusst, dass die Fahrrad-Infrastruktur mancherorts deutliche Mängel aufweist.“
Mehrfach hat die Verwaltung an den Straßenrändern bunte, große Schilder zur Eigenwerbung aufgestellt: „Fahrradfreundliche Stadt in Nordrhein-Westfalen“. Sie tat das auch an Orten, als wolle sie sich selbst widerlegen: etwa nahe dem Stadion, wo sich mehrere monströse Bodenwellen auf dem Radweg durch Eichenwurzeln von locker 15 Zentimeter Höhe finden, darauf eine schräg stehende Absperrbake. Oder an anderer Stelle, wo ein knallrotes Radwegstück schräg Richtung Straße führt – und abrupt endet. Auch hier direkt daneben das Selbstlob: „Fahrradfreundliche Stadt in Nordrhein-Westfalen“.
Krefelds Elend mag als Pars pro Toto zählen. Bei Verkehrsunfällen mit Radfahrerbeteiligung liegt man allerdings erschreckend weit vorn: Die Zahlen verdoppelten sich fast binnen drei Jahren von 275 Unfällen 2017 auf 520 im Jahr 2020. Das ist weit über Bundesdurchschnitt (Berlin etwa hat plus 11 Prozent). Fünf RadlerInnen starben in Krefeld seit 2017.
Die Stadt weiß auch um die lebensbedrohliche Wirklichkeit. Deshalb wurde 2020 ein Planungsgutachten in Auftrag gegeben. Das liegt seit vergangener Woche vor. Die GutachterInnen fanden bei Testfahrten über nicht mal 300 Kilometer radunfreundliche Mängel an 690 Stellen. Alle 450 Meter ein Problem.
Das Gutachten schlägt Umbauarbeiten bis Ende des Jahrzehnts mit einem Volumen von 47 Millionen Euro vor, das sind etwa 18 Euro pro EinwohnerIn pro Jahr. OB Meyer beklagte jetzt in einer Vorlage an die Ratsgremien „unzumutbare Komfortmängel“. Erste Priorität solle das Öffnen neuer Einbahnstraßen für Räder haben und die regelmäßige Pflege auf den vorhandenen alten Wegen. Vom dringend nötigen Kreuzungsumbau ist nirgendwo die Rede. Planungsdezernent Marcus Beyer sprach vor der Presse von einem anstehenden „Verteilungskampf zwischen Flächen für Radwege und Autos“. Tag darauf wünschte er sich auf der Website der Stadt nur noch einen „Interessenausgleich“ zwischen Auto und Rad.
Der Stadtrat soll im November das Go für das neue Verkehrskonzept geben. Oberbürgermeister Meyer verkündet dabei ein sehr ehrgeiziges Ziel: 30 Prozent Radverkehr in der Verkehrsstatistik (Modal Split) bis 2030. Zuletzt nannte die Stadt einen aktuellen Radverkehrsanteil von 21 Prozent. Ein sehr hoher Wert, der in der Alltagsbeobachtung völlig unrealistisch erscheint und den auch Fridays for Future Krefeld für massiv schöngerechnet hält. Sie kamen bei Stichproben auf 7 Prozent.
Hupende Autofahrer, fehlende Beschilderungen
Auch heute schon gibt es einige Fahrradstraßen in Krefeld. Sie sind allerdings ohne rote Farbe und ohne gute Beschilderung schwer erkennbar. Auf einer solchen Radvorrangstraße, wo Autos per Gesetz nur Gast sind, überholt der Fahrer eines großen, schwarzen BMW unsere Gruppe schneidig eng, hupend und empört gestikulierend. An der roten Ampel kurz dahinter fragen wir ihn nach seinem Problem. „Fahren Sie gefälligst hintereinander!“ Er will nicht verstehen, dass in einer Fahrradstraße das Nebeneinanderfahren zum guten Recht gehört, setzt PS-stark zurück und rammt eines unserer Räder. Bevor wir die Polizei rufen, zeigt die Ampel Grün. Zum Glück gab es keinen Schaden.
Eine andere Radstraße ist die Mariannenstraße nahe dem Bahnhof. Eine enge Schlaglochpiste sondergleichen, es gibt drei Spuren, davon sind zwei von Autos komplett zugeparkt. Barbara Schnell wohnt hier und versorgt uns mit Getränken. Sie ist Vorsitzende des Bürgervereins und erzählt, sie laufe bei der Stadtverwaltung mit dem Thema Rad gegen eine Wand. Auch in der Politik bewege sich wenig, nicht mal bei den Grünen. Zu unserer Erkundungstour waren alle Fraktionen eingeladen, niemand kam. Sigrid Lehmann, Ratsfrau der Linken in Düsseldorf, berichtet, sie habe bei den beiden Krefelder RatskollegInnen per Mail angefragt, „es gab keine Reaktion“. Joachim Bienert sagt: „Krefeld ist eine unfassbar lahme Stadt, nichts passiert, alle sind nur träge.“
„Und jetzt“, kündigt Bienert dann an, „folgt Krefelds Höhepunkt.“ Gleich beim Rathaus, in der Gartenstraße, ist auf einem roten Radwegstück das Parken halb auf dem Bürgersteig und halb auf der Radpiste offiziell erlaubt. Drei Autos nutzen diesen sehr besonderen Shared Space auch gleich aus. Ob man auch über die abgestellten Pkw mit dem Rad fahren darf, ist allerdings nicht ausgeschildert. „Parkplatz und Radweg platzsparend in einem“, sagt Bienert, „ob es das irgendwo noch mal gibt?“ Sigrid Lehmann, die linke Ratsfrau aus Düsseldorf, hat nur ein Fazit: „Ich will nach Holland!“
Die „Fahrradfreundliche Stadt“ ist wohl eher eine fahrradfeindliche Wegewüste. Der Hauptbahnhof in Krefeld bestätigt den Eindruck eindringlich durch die winzigen Aufzüge hoch zu den Bahnsteigen. Da passt ein handelsübliches Fahrrad nur mit Mühen dreidimensional schräg verkantet herein. Nicht mal verlassen kann man Krefeld fahrradfreundlich.
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