Expert:innen über Klimaschutz: Deutschland wird Klimaziele reißen
Die Ampelregierung wird die CO2-Emissionen wohl nicht in dem Maße senken, wie es gesetzlich vorgeschrieben ist. Das zeigen gleich mehrere Berichte.
Die deutschen CO2-Emissionen werden bis 2030 mit den aktuell beschlossenen Maßnahmen nicht so schnell sinken wie gesetzlich vorgeschrieben, prognostiziert etwa der Expertenrat für Klimafragen. Diese von der Bundesregierung zur Beratung einberufenen Wissenschaftler:innen überprüfen regelmäßig die Klimapläne der Politik auf ihre Tauglichkeit. Diese Rolle ist sogar im Klimaschutzgesetz offiziell geregelt.
„Bei etlichen Maßnahmen sehen wir die Realisierungswahrscheinlichkeit und die Abweichung zwischen der Realität und den Annahmen der Bundesregierung in den Unterlagen kritisch“, sagte Hans-Martin Henning, der Chef des Expertenrats, am Dienstag. „Die erwartete Gesamtminderung wird daher vermutlich überschätzt.“ Im Klartext: Es reicht nicht, was die Bundesregierung beim Klimaschutz liefert – und sie sieht es nicht mal wirklich ein.
Analysiert haben die Expert:innen das Klimaschutzprogramm, das Bundesklimaminister Robert Habeck (Grüne) Mitte Juni vorgestellt hat. Es enthält Pläne der gesamten Bundesregierung. Damit gibt es einen Vorgeschmack darauf, wie die Ampelparteien nach ihrer umstrittenen Reform des Klimaschutzgesetzes arbeiten wollen.
Problemfelder Verkehr und Gebäude
Dann soll nicht mehr jede:r Minister:in für den Klimaschutz im thematisch passenden Bereich verantwortlich sein – sondern die Bundesregierung gemeinsam die Verantwortung für alles tragen. Klimaschützer:innen kritisieren das. Sie befürchten, dass es so für die Politiker:innen einfacher ist, eigene klimapolitische Verfehlungen zu kaschieren.
Dass das Klimaschutzprogramm insgesamt nicht ausreicht, um die Emissionen auf das für 2030 gesetzlich vorgeschriebene Niveau zu drücken, hatte auch Habeck schon eingeräumt. Eigentlich sollen sie dann um 65 Prozent unter dem Niveau von 1990 liegen. Dem Minister zufolge würden immer noch rund 220 Millionen Tonnen CO2 zu viel in die Atmosphäre gelangen. Zum Vergleich: Das entspricht fast einem Drittel von dem, was Deutschland im vergangenen Jahr insgesamt emittiert hat.
Der Expertenrat kommt nun aber zu dem Schluss: Wahrscheinlich ist es sogar noch mehr. Ganz abschließend könne er das nicht klären, weil die Bundesregierung nur „eine umfängliche, insgesamt aber unzureichende Datengrundlage“ zur Verfügung gestellt habe.
Deutliche Fortschritte bringt das Klimaschutzprogramm den Expert:innen zufolge in den Bereichen Energie und Industrie. Beim Gebäudesektor hängt es laut dem Bericht stark von der finalen Ausgestaltung des Gesetzes für den ökologischen Heizungstausch ab, das die Bundesregierung gegenüber ihrem Erstentwurf verwässern will.
Besonders große Sorgen macht den Expert:innen der Verkehrssektor, in dem die Bundesregierung mit zu optimistischen Annahmen arbeite, was zum Beispiel die Umsetzungsgeschwindigkeit oder die Finanzierung der Maßnahmen angehe.
„Wir sehen Handlungsbedarf für die Bundesregierung sowohl hinsichtlich der Verbesserung der Datengrundlage der Klimapolitik, bezüglich des Schließens der verbleibenden Ziellücke als auch bei der Entwicklung eines Gesamtkonzepts“, sagte die Klimaforscherin Brigitte Knopf, die Teil des Rats ist.
Auch Klimaneutralität 2045 in Gefahr
Zu ähnlichen Ergebnissen kommt der ebenfalls am Dienstag vom Umweltbundesamt veröffentlichte Projektionsbericht 2023. Je nach Szenario wird Deutschland im Zeitraum von jetzt bis 2030 zwischen 194 und 331 Millionen Tonnen CO2 zu viel ausstoßen.
„Der Projektionsbericht zeigt deutlich, dass es zusätzliche Maßnahmen braucht, um die gesteckten Klimaziele noch erreichen zu können“, sagte Behördenchef Dirk Messner. Auch das Ziel der Klimaneutralität im Jahr 2045 wird laut Umweltbundesamt „unter den gegebenen Umständen nicht erreicht“.
Klimaschützer:innen sind entsprechend kritisch. „Die Klimapolitik der Bundesregierung verstößt gegen Recht und Gesetz“, sagte Christoph Bals, Chef der Organisation Germanwatch. „Der Bundeskanzler muss dafür sorgen, dass der fortgesetzte Rechtsbruch beim Klimaschutz durch die gesamte Regierung endlich endet und alle Ministerinnen und Minister das Nötige tun, um die Klimazielerreichung sicherzustellen.“
Carla Rochel von der Letzten Generation kündigte an, die Gruppe werde ihre Proteste „weiter fortsetzen und intensivieren“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestellerautor will in den Bundestag
Nukleare Drohungen
Angst ist ein lautes Gefühl
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland