Expertin über häusliche Gewalt: „Gleichstellung hilft gegen Gewalt“

Das Lagebild zu häuslicher Gewalt ist alarmierend, sagt Expertin Katharina Göpner. Dabei sieht sie auch Handlungsbedarf im Sorge- und Umgangsrecht.

Person streckt Hände schützend vor den Kopf

Vielen Betroffenen häuslicher Gewalt wird eine Mitschuld gegeben Foto: Fabian Sommer

taz: Frau Göpner, gegenüber dem Jahr 2021 sind die Meldungen zur häuslichen Gewalt im vergangenen Jahr um etwa neun Prozent gestiegen. Haben Sie eine Vermutung, woran das liegen könnte?

ist Geschäftsführerin beim Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff) Frauen gegen Gewalt e. V. Dazu gehören etwa 210 Frauennotrufe- und-Frauenberatungsstellen

Katharina Göpner: Man muss berücksichtigen, dass das das Hellfeld ist. Die Zahlen sind in den letzten Jahren mit leichten Schwankungen stetig gestiegen. Sie sind weiter viel zu hoch, aber eben begrenzt aussagekräftig darüber, wie viel Gewalt es gibt. Es gibt ein sehr großes Dunkelfeld. Dazu wird es eine neue Dunkelfeldforschung geben, die letzte ist schon alt. Aber aus der wissen wir, dass etwa jede vierte Frau häusliche Gewalt erlebt.

Ergebnisse der neuen Studie gibt es noch nicht, sie startete am Dienstag. Haben Sie Einblicke, wie sich das in den letzten Jahren veränderte – auch in Hinblick auf die Corona-Pandemie?

Ja, Klient_innen sind noch immer psychisch stark belastet von einer jahrelangen Auswirkung der Pandemie. Es sind häufig Fälle, in denen mehrere Gewaltformen auftreten. Wir nehmen schon länger wahr, dass die Beratungsanfragen in Beratungsstellen zunehmen, aber das Personal nicht aufgestockt wird. Dabei werden die Anfragen komplexer. Dazu kommen andere Problemlagen wie die Wohngungsnot in Großstädten.

Haben Sie ein Beispiel für das Aufeinandertreffen von Gewaltformen?

Wir hatten während der Pandemie häufig die Situation von sexualisierter Gewalt beim Online-Dating. Da war es bei den ersten Dates nicht möglich, sich im öffentlichen Raum zu treffen. Dazu nimmt die digitale Gewalt seit Jahren zu.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser fordert Frauen dazu auf, Gewalt vermehrt zu melden. Wie schätzen Sie das ein?

Das ist eine wichtige Forderung, weil viele Betroffene sich schämen. Weil sie die Erfahrung machen, dass ihnen eine Mitschuld gegeben wird.

Meldungen zu Gewalttaten innerhalb von Familien und Partnerschaften nehmen zu. Das zeigt das aktuelle Lagebild des Bundeskriminalamts zur häuslichen Gewalt, das am Dienstag in Berlin vorgestellt wurde. 2022 wurden 230.946 Fälle angezeigt, im Vorjahr waren es 212.167. Das ist ein Anstieg um 8,9 Prozent. Die Zahl der Opfer stieg im Vergleich zu 2021 um 9,1 Prozent. Vier von fünf Betroffenen sind Frauen und etwa die Hälfte der Betroffenen häuslicher Gewalt lebt mit der tatverdächtigen Person zusammen.

Das Hilfetelefon bei Gewalt gegen Frauen erreichen Sie unter 116-016 und unter hilfetelefon.de, das Hilfetelefon bei Gewalt gegen Männer unter 0800-1239900.

Können Sie denn nachvollziehen, dass manche Betroffenen keine Anzeige stellen?

Ja, dafür gibt es gute Gründe. Zum Beispiel, wenn die gewaltausübende Person der eigene Partner ist und man mit ihm gemeinsame Kinder hat. Eine Anzeige kann auch die Gewalt­situation eskalieren lassen. Und die Gerichtsprozesse dauern sehr lange und können retraumatisierend sein.

Das Lagebild zeigt, dass die Anzeigen zu sexualisierter Gewalt steigen. Warum ist die Anzeigenbereitschaft so hoch, obwohl mutmaßlichen Opfern oft nicht geglaubt wird, wenn sie an die Öffentlichkeit gehen?

Die Reform des Sexualstrafrechts hat einiges verändert. Seit der Reform können Sachen angezeigt werden können, die vorher als nicht strafbar galten.

Haben Sie ein Beispiel?

Wenn Betroffene Nein gesagt, aber sich nicht körperlich gewehrt haben. Wir haben außerdem eine kleine Abfrage gemacht bei unseren Beratungsstellen, als sich die Reform zum fünften Mal jährte: Da haben sie gesagt, dass #MeToo und die öffentliche Debatte ein Empowerment für Betroffene bieten.

Zudem kündigte Faeser an, dass Täter direkt nach dem ersten Übergriff aus der Wohnung verwiesen werden sollen – falls nötig auch mit Fußfesseln.

Diese Wegweisungen gibt es ja schon. Das Problem ist eher, dass die Umsetzung nicht kontrolliert wird. Das muss besser kontrolliert werden.

Ende Juni hatten Sie vom bff auch mit der Kampagne #HilfenachVergewaltigung auf die mangelnde medizinische Versorgung aufmerksam gemacht. Welche Reaktionen haben Sie darauf erhalten?

Wir haben vor allem von Betroffenen Rückmeldungen erhalten, die ihre Erfahrungen schilderten: dass sie auf den Kosten sitzen blieben oder nur männliche Ärzte im Krankenhaus anzutreffen waren. Wir haben leider keine Rückmeldung von der Gesundheitsministerkonferenz bekommen.

Was hätten Sie von dieser erwartet?

Es wird ja oft nur über die vertrauliche Spurensicherung gesprochen. Wir sagen, dass eine gute medizinische Versorgung wichtig ist. Damit Betroffene erst klären können: Bin ich schwanger? Habe ich eine Krankheit? Und danach entscheiden können, ob sie eine Spurensicherung machen, um dann im nächsten Schritt zu sagen: Ich mache eine Anzeige. Damit schließt sich der Kreis.

In Ihrer Kampagne machten Sie auch auf das schlechtmöglichste Szenario aufmerksam: dass es Fälle von Menschen gibt, die nach einer Vergewaltigung von Kliniken abgewiesen werden. Was empfehlen Sie Betroffenen hierbei?

Das ist wirklich das schlechtmöglichste Szenario. Wir würden sie ermutigen, dass sie sich woanders hinwenden. Wohlwissend, dass es extrem demotivierend ist, abgewiesen worden zu sein. Beratungsstellen können Unterstützung anbieten, sie sind gut vernetzt mit Kliniken.

Sie haben die Dunkelfeldstudie schon angesprochen, die Anhaltspunkte geben soll, welche Maßnahmen umgesetzt werden. Gibt es Mittel, die schon jetzt von der Politik ergriffen werden sollten?

Was wir immer wieder fordern: Die Istanbul-Konvention muss umgesetzt werden. In Deutschland ist sie ratifiziert, aber es hapert an einigen Stellen. Wir brauchen einen Ausbau von Beratungsstellen, es muss mehr Geld in Unterstützungssysteme fließen. Die Istanbul-Konvention gibt auch noch andere sehr gute Empfehlungen, zum Beispiel bei Hochrisikofällen.

Woran ist ein Hochrisikofall zu erkennen?

Das sind Fälle, in denen der Täter zum Beispiel Waffen besitzt oder es schon vorher zu Gewalt kam. Sie enden noch viel zu oft in Femiziden. Hier müssen Institutionen besser arbeiten, um gemeinsam mit betroffenen Personen einen Plan zu machen. Wobei wir sagen, dass alle Fälle von partnerschaftlicher Gewalt Hochrisikofälle werden können.

Nun haben wir viel über Maßnahmen gesprochen, die greifen, wenn die Gewalt schon passiert ist. Haben Sie Ideen, wie häusliche Gewalt effizienter verhindert werden könnte?

Es braucht mehr Präventionsprojekte und Projekte, die sich mehr mit Männlichkeit beschäftigen. Es braucht mehr Kampagnen, die potenziell gewaltausübende Personen adressieren. Letztendlich sind alle Maßnahmen für mehr Gleichberechtigung sinnvoll. Es gibt einen Zusammenhang zwischen Gleichstellung und geschlechtsspezifischer Gewalt. Das klingt jetzt sehr abstrakt …

was wäre denn ein gutes Beispiel dafür?

Es ist schwer für Frauen, gewaltvolle Situationen zu verlassen, wenn sie finanziell vom Täter abhängig sind. Ein anderer großer Handlungsbedarf ist das Sorge- und Umgangsrecht: Häusliche Gewalt sollte sich darauf auswirken. Das geschieht im Moment nicht. Da haben wir viel zu tun.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.