Expertin über Kindergrundsicherung: „Wir müssen Familien einfacher und fairer unterstützen“
Franziska Vollmer sollte im Familienministerium die Kindergrundsicherung umsetzen. Sie hielt die Idee für falsch – und will eine noch größere Reform.
taz: Frau Vollmer, mit dem Ampel-Aus ist auch die Einführung der Kindergrundsicherung erst mal vom Tisch. Wie erleichtert sind Sie?
Franziska Vollmer: Sehr. Ich hoffe, dass sie dauerhaft vom Tisch ist und sich nun ein breites Bündnis gemeinsam um realisierbare Verbesserungen in der Grundsicherung bemüht – für Kinder, Familien und alle anderen auch. Denn die Probleme bestehen fort. Die Grundsicherungsleistungen sind nicht fair und schwer zugänglich.
Franziska Vollmer, Jahrgang 1967, ist Juristin und war Referatsleiterin im Bundesfamilienministerium. Derzeit arbeitet sie frei.
taz: Ursprünglich sollten Sie als Referatsleiterin im Bundesfamilienministerium die Kindergrundsicherung umsetzen. Anfang 2023 haben Sie Ihren Job aufgegeben. Weil Sie mit dem Projekt schon damals nicht einverstanden waren?
Vollmer: Die Idee Kindergrundsicherung hatte viel mehr versprochen, als sie halten konnte. Letztlich war sie ein Luftschloss. Ich habe dann gedacht, dass ich zum Thema konstruktiver von außen beitragen kann als innerhalb des Ministeriums.
taz: Wann war Ihnen klar, dass Sie für falsch halten, woran Sie arbeiten?
Vollmer: Das Ministerium hatte sich schon in früheren Legislaturperioden dem Thema zugewandt – sehr zurückhaltend allerdings, weil es von vornherein Zweifel gab. Die wurden im Ministerium, mit Parteien und Verbänden immer wieder thematisiert. Die Bedenken sind aber nicht durchgedrungen. Im Ergebnis haben sich die Zweifel in dieser Legislatur dann voll bestätigt: Für Kinder in Armut hätte das Projekt keine Erleichterungen gebracht.
taz: Viele Sozialverbände favorisieren noch heute die Pläne vom Beginn dieser Legislaturperiode: Diverse bisherige Leistungen werden gebündelt. Alle Kinder bekommen einen Garantiebetrag. Für Bedürftige gibt es einen Zusatzbetrag. Das Geld wird durch eine zentrale Stelle automatisch ausgezahlt. Was wäre daran falsch?
Vollmer: Einheitliche Leistungen für Kinder klingen zwar gut, schaffen in der Praxis aber Schwierigkeiten. Bisher werden Kinder im Bürgergeldbezug zusammen mit ihren Eltern über das Jobcenter abgesichert. Einkommen und Bedarfe der Familien werden dort geprüft. Schiebt man die Kinder in eine neue Leistung, muss die dafür zuständige Behörde das Gleiche noch mal prüfen. Das ist ein erheblicher Zusatzaufwand.
taz: Und wenn das Jobcenter sein Prüfergebnis einfach an die neue Stelle weiterleitet, wie es sich Befürworter*innen vorstellen?
Vollmer: Die Vorstellung, dass die Information automatisch an eine zweite Behörde geht und dort unmittelbar die Höhe des Kinderzusatzbetrags verändert, ist illusorisch. Dafür bräuchte man IT-Systeme, die zusammenpassen. Man bräuchte zumindest irgendeine Art von Prüfung, weil jede Behörde ja eigene Entscheidungen trifft. Man hätte zwei unterschiedliche Bescheide, im Zweifel also auch zwei Widerspruchs- und zwei Gerichtsverfahren. Das kann man nicht alles mit einem Mausklick erledigen.
taz: Von der Zusammenlegung der Leistungen für Kinder hatte sich auch die Ampel im Laufe ihrer Verhandlungen verabschiedet. An einer anderen Stelle schien dagegen bis zum Regierungsbruch eine Einigung möglich. Bisher nehmen viele Familien, denen ein Zuschlag zum Kindergeld zusteht, diesen nicht in Anspruch, weil sie nichts davon wissen. Künftig sollten die Behörden mit dem Kindergrundsicherungscheck prognostizieren, ob eine Familie Anspruch haben könnte, und ihr den Antrag dann nahelegen. Wäre es nicht sinnvoll, wenn die nächste Regierung zumindest diesen Punkt umsetzt?
Vollmer: Die Inanspruchnahme ist allein schon durch die Debatte zum Thema gestiegen. Früher bezogen rund 750.000 Kinder den Kinderzuschlag, jetzt sind es über eine Million. Das ist ein riesiger Fortschritt. Ich sage: Lasst uns mit einer Kampagne für den Zuschlag werben! Dann könnten wir die Anzahl der Kinder, die den Zuschlag bekommen, auch im jetzigen System weiter erhöhen. Das würde viel mehr bringen als der Kindergrundsicherungscheck, den die Ampel geplant hatte.
taz: Hat die Politik unterschätzt, wie komplex das Projekt ist?
Vollmer: Ja. Aber spätestens, als die Regierung konkret am Gesetzentwurf gearbeitet hat, hätten es alle merken können.
taz: Hat Lisa Paus als zuständige Ministerin versagt?
Vollmer: Das Problem war der große politische Druck. Die Idee klang gut, und das Bündnis Kindergrundsicherung hat sie über Jahre erfolgreich in die verschiedensten Bereiche getragen. Es ist schwer, sich einzugestehen, dass die Kindergrundsicherung nicht funktioniert – man will ja zu den Guten gehören.
taz: Was müsste aus dieser Erkenntnis für die nächste Bundesregierung folgen?
Vollmer: Meine Vorstellungen, wie man das Problem wirklich lösen kann, gehen über eine Legislaturperiode hinaus. Wir müssen Armut von Kindern und Armut von Familien zusammen adressieren. Und das so, dass das System fair ist und von allen verstanden wird. Dafür reicht es eben nicht, nur die Leistungen für die Kinder zusammenzufassen, wie es die Kindergrundsicherung versucht hat. Meines Erachtens braucht es eine einzige Grundsicherungsleistung, ein einziges System für alle Familien – und immer für die ganze Familie.
taz: Momentan gibt es zwei Systeme: Familien ohne oder mit sehr kleinem Einkommen bekommen das Bürgergeld. Wer dafür zu viel verdient, aber trotzdem nicht über die Runden kommt, kann den Kinderzuschlag und Wohngeld beantragen.
Vollmer: Diese drei Leistungen müsste man in einer zusammenfassen.
taz: Welche Vorteile hätte das?
Vollmer: Es gäbe nur ein Ministerium, eine Behörde, die verantwortlich ist und deren Verfahren digitalisiert werden muss. Familien mit knappen Einkommen wüssten, wo sie den Antrag stellen müssen. Es gäbe nur einen Bescheid und im Streitfall nur ein Gerichtsverfahren. Zudem könnten wir eine große Ungerechtigkeit adressieren.
taz: Nämlich?
Vollmer: Wir könnten das Ganze in dem Sinn fair ausgestalten, dass sich eigene Leistung immer lohnt. Wer zusätzliches Erwerbseinkommen hat, muss davon etwas behalten dürfen. Das ist im Moment durch das Zusammenspiel von drei Leistungen, die nicht gut zusammenpassen, nicht gewährleistet. Es gibt viele Fälle, in denen Eltern 1.000 Euro brutto mehr verdienen, am Schluss aber kaum einen Cent mehr zur Verfügung haben. Ich halte das sozialpolitisch für einen Skandal.
taz: Wäre das, was Sie beschreiben, nicht eine noch viel größere Reform als die Kindergrundsicherung?
Vollmer: Doch. Das wäre eine wirklich große Verwaltungsreform. Die neue Leistung müsste allein beim Ministerium für Arbeit und Soziales angesiedelt sein. Sowohl Wohn- als auch Familienministerium müssten Leistungen abgeben, Behörden müssten völlig neu strukturiert und zum Teil abgewickelt werden. Der Bund müsste sich mit Ländern und Kommunen einigen. Es gäbe große Veränderungen beim Bürgergeld, das sinnvollerweise als Grundlage dienen würde. Die Jobcenter oder eine entsprechende Struktur müsste ausgebaut werden. Dabei gibt es noch ein beachtliches Gegenargument.
taz: Das wäre?
Vollmer: Die Stigmatisierung der Empfänger*innen. Aber die liegt zum großen Teil am Staat selbst, der die einkommensschwachen Familien spaltet in diejenigen mit den „guten“ Leistungen Kinderzuschlag und Wohngeld – und diejenigen mit Bürgergeld. Wir müssen zu einer Haltung kommen und auch Kampagnen in dem Sinne machen, dass Sozialleistungen das gute Recht der Menschen sind. Es wird ja auch niemandem angekreidet, Steuervergünstigungen in Anspruch zu nehmen.
taz: Die CDU fordert in ihrem Konzept für eine „Neue Grundsicherung“ das, was Sie vorschlagen: Perspektivisch soll es eine einheitliche Struktur für alle Leistungen geben. Trauen Sie ausgerechnet einer Regierung unter Friedrich Merz einen Schritt nach vorne zu?
Vollmer: Bisher ist über die „Neue Grundsicherung“ der CDU vor allem zu hören, dass die Regelsätze gekürzt werden sollen. Das geht an den Herausforderungen völlig vorbei. Von dem Bild ausgehend, dass sich viele in der Grundsicherung „ausruhen“ würden, wird ausgeblendet, dass die Mehrzahl der Betroffenen die Unterstützung dringend benötigt. Das sind Menschen mit körperlichen oder psychischen Erkrankungen, mit umfangreichen Pflege- oder Care-Aufgaben, mit unzureichenden Qualifikationen und viele, viele Kinder, denen wir mit Leistungskürzungen und Stigmatisierungen die Zukunftschancen weiter erschweren würden.
taz: Der Diskurs richtet sich derzeit stark gegen Bürgergeldempfänger*innen, die CDU trägt kräftig dazu bei. Könnte sie einen kompletten Umbau der Sozialsysteme nicht zum Anlass nehmen, die Leistungen ganz zusammenzustreichen?
Vollmer: Leistungskürzungen lassen sich bei Veränderungen des Systems nicht leichter durchsetzen als sowieso schon. Auch aktuell ist eine Nullrunde in der Grundsicherung vorgesehen, bei den Asylbewerberleistungen soll es sogar zu Kürzungen kommen. Meines Erachtens müssen wir uns so oder so wieder in die Lage bringen, inhaltlich und faktenbasiert zu diskutieren. Seit Bestehen der Bundesrepublik verästeln wir unser Sozialsystem immer weiter. Selbst die Abgeordneten können kaum noch informiert entscheiden. Das System muss deshalb wieder so einfach werden, dass wir fragen können: Wie sehr wollen wir Kinder und Familien unterstützen?
taz: Eine so große Reform erscheint kurzfristig aber noch unrealistischer als die Einführung der Kindergrundsicherung.
Vollmer: Zivilgesellschaft, Parteien und Wissenschaft müssten sich trauen, das Problem zu benennen, und bereit sein, Einzelinteressen und institutionelle Interessen zurückzustellen. Dann wäre die große Reform innerhalb von zwei, drei Legislaturperioden realisierbar. Mir ist wichtig, dass bei Sozialreformen die bürokratische Machbarkeit mitdiskutiert wird und die Digitalisierung des Vollzugs durch mehrere Behörden nicht als Allheilmittel fantasiert wird. Das System kann nicht bleiben, wie es ist. Auf Dauer müssen wir Familien einfacher und fairer unterstützen.
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