Experte über Sicherheit und Hass im Netz: „Ursache für Hass sind Algorithmen“
Das Europaparlament hat jüngst für das neue Digitale-Dienste-Gesetz gestimmt. Dem Datenschutz-Experten Patrick Breyer geht es nicht weit genug.
taz: Herr Breyer, das neue Digitale-Dienste-Gesetz (Digital Service Act, DSA) wird oft als Grundgesetz für das Internet bezeichnet. Wird es diesem Anspruch gerecht?
Patrick Breyer: Das DSA verdient absolut nicht die Bezeichnung digitales Grundgesetz. In einem Grundgesetz stehen vorne die Grundrechte drin. Das DSA versagt beim Grundrechtsschutz, vor allem beim Schutz unserer Privatsphäre vor dem Überwachungskapitalismus im Netz, aber auch beim Schutz der freien Meinungsäußerung, vor Zensur durch willkürliche Plattformregeln, auch vor grenzüberschreitenden Löschanordnungen zum Beispiel aus Ungarn. Es ist vorgesehen, dass Ungarn auch in Deutschland legal veröffentlichte Inhalte löschen lassen kann, nur weil sie angeblich gegen ungarische Gesetze, die Orbáns Regierung erlassen hat, verstoßen.
Das ist unglaublich, das müssen Sie erläutern. Darf Viktor Orbán künftig das Internet in Deutschland oder Frankreich zensieren?
Ja, genau das ist vorgesehen. Man kann dagegen klagen – vor ungarischen Gerichten. Die ungarische Behörde kann eine Löschanordnung auch an deutsche Anbieter schicken. Denkbare Themen sind Seenotrettung als Beihilfe zu illegaler Immigration oder Proteste gegen Orbán als verbotene Demoaufrufe. Die Klage in Ungarn wird in der Tat kaum nutzen.
ist Bürgerrechtler, Jurist und Politiker der Piratenpartei Deutschland. 2019 zog er in das Europaparlament ein.
Sie fürchten auch um den Schutz der freien Meinungsäußerung. Dabei wird das DSA von seinen Befürwortern doch gerade dafür gepriesen, dass es das Internet von Hassrede, Fake News und Desinformation befreien soll. Wie sieht es damit aus?
Die eigentliche Ursache für die weite Verbreitung von Hass, Gewalt und Falschinformationen im Netz sind die Konzernalgorithmen, die im Profitinteresse die kontroversesten Inhalte am schnellsten verbreiten. Die Nutzerinnen und Nutzer erhalten kein Recht, diese Algorithmen abzuwählen oder die eigene Timeline von einem nichtkommerziellen, offenen Algorithmus ihrer Wahl sortieren zu lassen. Desinformation ist nicht durch Zensur beizukommen. Es wäre viel sinnvoller, die Verbreitung zuverlässiger Informationen zu fördern und die Nutzer einzubinden, damit sie Fake News selbst erkennen.
Journalisten und Verleger warnen vor einer Gefahr für die Pressefreiheit. Die EU habe alle Bemühungen zurückgewiesen, die Presse gegen Zensur großer Plattformen wie Facebook zu schützen. Wie sehen Sie das?
Das DSA schützt legale Inhalte, einschließlich Medienberichte, nicht davor, fehleranfälligen Uploadfiltern zum Opfer zu fallen. Auch schwammige bis absurde Nutzungsbedingungen der Plattformen können dazu führen, dass wichtige Informationen und Bilder verschwinden. Nicht zuletzt sind auch die grenzüberschreitenden Löschanordnungen ein Instrument, mit dem wichtige Presseveröffentlichungen aus politischen Gründen unterdrückt werden können. Unsere Bemühungen, Abhilfe zu schaffen, sind im Wesentlichen gescheitert.
Das Europaparlament wollte das Geschäftsmodell von Internet-Giganten wie Amazon, Facebook oder Google brechen und schädliche Algorithmen offenlegen. Was ist daraus geworden?
Wenig. Man setzt vorwiegend auf Selbstregulierung und Co-Regulierung durch Audits. Man glaubt, man könnte von den Plattformen verlangen, ihre Algorithmen sozusagen weniger schädlich zu gestalten. Das ist aber deswegen aussichtslos, weil ja gerade das Geschäftsmodell dieser großen Werbeplattformen darauf beruht, dass sie die Nutzer möglichst lange online halten. Das geht am besten, indem die Algorithmen die kontroversesten und problematischsten Inhalte ganz nach oben ausspielen, weil das zu vielen Reaktionen führt, weil die Leute dann darauf reagieren und weiter online bleiben. Es ist ein Irrtum, zu glauben, die Plattformen würden aufgrund rechtlicher Vorgaben sozusagen ihre eigenen Profite freiwillig schmälern. Künftig müssen die Kriterien, nach denen Algorithmen großer Plattformen Inhalte empfehlen, offengelegt werden. Das ändert im Wesentlichen aber nichts.
Das Geschäftsmodell der US-Konzerne beruht auch darauf, die User zu tracken, also auszuspähen. Wird die EU dem einen Riegel vorschieben?
Das Geschäftsmodell der Werbeplattformen beruht nicht nur darauf, möglichst viel Werbung anzuzeigen, sondern auch darauf, möglichst viel Werbung zu verkaufen. Und das wird gemacht, indem man den Anzeigenkunden über die Nutzer dieser Werbeplattform unheimlich viele Informationen und Datenpunkte liefert, über die Interessengebiete, über die Vorlieben, über die Schwächen der einzelnen Nutzer, über ihre Persönlichkeit. Das geht bis hin zur Gesundheit und zu sexuellen Präferenzen. Schwangerschaften kann man zum Beispiel auch ableiten aus solchen Daten. Das Geschäftsmodell des Überwachungskapitalismus beruht darauf, dass man quasi den Nutzer total überwacht und das zu Geld macht. Daran wird sich im Kern nichts ändern.
Immerhin soll das umstrittene Werbetracking bei Minderjährigen nun verboten werden …
Ja, das stimmt. Aber das Verbot gilt nur für Minderjährige, bei denen die Plattform weiß, dass sie minderjährig sind. Wenn Sie Google nutzen, weiß Google nicht, wie alt Sie sind. Bei Facebook wissen sie es, wenn Sie selbst angegeben haben, dass Sie minderjährig sind. Viele machen es aber nicht. Also ist es insofern ein sehr eingeschränktes Verbot, das an den meisten Nutzern vorbeigeht. Zum Schutz unserer Wahlen vor Manipulation wie im Fall Cambridge Analytica taugt ein Verbot, das nur für Minderjährige gilt, von vornherein nicht.
Und wie sieht es mit Volljährigen aus? Dort soll doch die Profilbildung aufgrund sensibler Daten wie politische oder sexuelle Präferenzen eingeschränkt werden?
Das Verbot der Verwendung sensibler Daten ist stark verwässert und weitgehend ausgehebelt worden. In vielen Fällen wird Überwachungswerbung – selbst anhand sensibler Personenmerkmale – keine Profilerstellung im Sinne des neuen Verbots darstellen und erlaubt bleiben. Und was Überwachungswerbung allgemein angeht, habe ich nicht mal mehr ein Recht darauf, das Tracking in meinem Browser generell abzulehnen. Der sogenannte Do-not-track-Mechanismus, für den wir gekämpft haben, steht nicht im Gesetz. Das heißt, das Einzige, was mir bleibt, ist, auf jeder Webseite auf die Einstellungen zu gehen und Cookies abzulehnen. Und das bei jeder Website und bei jedem Besuch, was völlig unzumutbar ist. Das zeigt: Das überwachungskapitalistische Geschäftsmodell bleibt im Kern intakt.
Trotzdem haben Sie für das DSA gestimmt. Also muss es ja auch Fortschritte geben?
Das Beste daran ist, dass die überzogenen nationalen Regelungen abgelöst werden, wie das deutsche NetzDG und ähnliche Gesetze in Frankreich und einigen Mitgliedsstaaten. Die Länder haben versucht, im Alleingang exzessive Löschfristen wie zum Beispiel 24 Stunden festzuschreiben. Sie wollten sozusagen die Plattformen zum Richter machen und das auch noch innerhalb einer Zeit, die eine sorgfältige Prüfung kaum zulässt. Das ist im DSA besser gelöst. Das wird künftig verhältnismäßiger und einheitlicher umgesetzt werden. Deswegen ist das eine gewisse Verbesserung gegenüber dem Status quo. Außerdem haben wir einiges verhindert, was ansonsten noch schlimmer geworden wäre. Es wird keine Zensur von Suchmaschinen geben, keine Unterbrechung von Livestreams durch die Industrie und auch keine Identifizierungspflicht für Sexarbeiter. Aber das ist nur Schadensbegrenzung. Von den positiven Ansätzen des Europaparlaments ist fast nichts übrig geblieben.
Gibt es gar nichts, worauf sich die User freuen dürfen?
Doch. Beim DMA, dem Marktkontrollgesetz, ist uns ein großer Erfolg gelungen. Wir haben die sogenannte Interoperabilität bei den Messenger-Diensten durchgesetzt. Damit wird eine echte Wahlmöglichkeit geschaffen. Sie können künftig zum Beispiel mit Whatsapp-Nutzern auch über andere Messenger kommunizieren – und umgekehrt. Das wird den Markt verändern. Ich hoffe, dass sich dann die Messenger mit dem besten Datenschutz durchsetzen.
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