Experte über Proteste in Iran: „Lärm vor der Niederlage“
Revolutionen brauchen mehr als Wut, sagt Srdja Popovic. Bei den Protesten in Iran vermisst er eine Strategie. Trotzdem hat er Hoffnung für das Land.
taz: Herr Popovic, ist es möglich, im Vorhinein zu erkennen, ob eine Revolution scheitern oder erfolgreich sein wird?
Srdja Popovic: Es wird oft darüber spekuliert, ob die Rahmenbedingungen oder die Fähigkeiten der Protestierenden den Erfolg einer Revolution bestimmen. Nachdem ich mehr als zehn Jahre im Aktivismus und in der Ausbildung von Aktivisten gearbeitet habe, ist mein Fazit, dass Fähigkeiten wichtiger sind. Es können die bestmöglichen Bedingungen für einen sozialen Wandel vorliegen – etwa eine gebildete Bevölkerung, eine relativ starke Mittelschicht und eine sehr unpopuläre Regierung. Doch wenn es einer revolutionären Bewegung an Fähigkeiten mangelt, kann sie trotzdem scheitern. Ein Beispiel dafür ist Venezuela, das trotz Protestwellen in den vergangenen Jahren und einem von der Opposition ausgerufenen Gegenpräsidenten letztlich keine Revolution erlebte.
Andererseits kann eine Gesellschaft, die von Armut geprägt ist und ein hohes Maß an Unterdrückung aufweist, trotzdem erfolgreich sein – und sogar unvorstellbare Dinge erreichen, wie im Sudan, wo sich viele Frauen der Protestbewegung angeschlossen haben. Die erste Frage zur Einschätzung eines möglichen Erfolges ist: Sehen wir lediglich die aufgestaute Wut einiger Menschen? Oder sehen wir eine Bewegung, die eine Führung, Struktur und greifbare Ziele hat?
beteiligte sich an Otpor!, der serbischen Oppositionsbewegung, die maßgeblich zum Sturz des serbischen Kriegsverbrechers und Politikers Slobodan Milošević beitrug. Er ist Autor („Blueprint for Revolution“) und hat eine Organisation gegründet, die Aktivisten Tools für gewaltfreien Widerstand an die Hand geben will.
Warum ist das wichtig?
Die meisten Bewegungen, die in der Vergangenheit erfolgreich waren, hatten eine klar definierte Vision und eine Kerngruppe, die den Aufstand leitete. Ohne Strategie sind Proteste meist nur der Lärm vor der Niederlage. Saul Alinsky, der das Buch „Rules for Radicals“ schrieb, sagte: Es reicht nicht aus, Wut zu haben, man muss auch Hoffnung haben. Und zwischen Wut und Hoffnung muss man seine kleinen Siege dokumentieren. Wie können wir diese kleinen Siege nutzen, um die Menschen zu ermutigen? Wie können wir sie nutzen, um unseren Gegner in eine defensive Position zu bringen? Ein weiterer wichtiger Faktor ist die Identität: Erfolgreiche Bewegungen haben sehr oft nicht nur gemeinsame Werte, etwa wie die gegen den Klimawandel weltweit, sondern auch wiedererkennbare Symbole.
Wird so aus einem Protest eine Revolution?
Ich mag den Begriff „Revolution“ nicht, da er einen totalen Umsturz der bestehenden Ordnung impliziert. Ich würde es eher so ausdrücken: Eine Bewegung ist eine Gruppe von organisierten Demonstranten, die auf ein Ziel hinarbeiten. Und dafür müssen sie eine Vision entwickeln, eine Strategie planen, entscheiden können, wann sie sich engagieren und wen sie engagieren, wie sie Menschen rekrutieren, trainieren und mobilisieren. Sie müssen kreativ sein und versiert im Umgang mit Medien. Und sie müssen die Mittel der Unterdrückung des Regimes, mit dem sie konfrontiert sind, kennen.
Treffen diese Eigenschaften auf die Proteste im Iran zu?
Einige Kriterien sind nicht erfüllt, es fehlt zum Beispiel eine Strategie und gemeinsame Vision – die zu finden, ist immer schwierig. Und der Iran hat eine große und einflussreiche Diaspora, die politisch und ideologisch sehr zersplittert ist. Es braucht aber ein Maß an Einigkeit, um eine Vision und schließlich eine Strategie entwickeln zu können.
Sehen Sie denn Hoffnung für den Iran?
Ja, und ein wichtiger Grund dafür ist die demografische Entwicklung: Einem Regime, das von 80-jährigen Männern geführt wird, steht eine Gesellschaft mit einem Durchschnittsalter von etwa 30 Jahren gegenüber. Die Mullahs versuchen, ihrem Volk die Geschichte der Revolution von 1979 zu verkaufen – da waren die meisten noch nicht mal geboren.
Mit dem Beginn der Proteste haben viele Menschen im Iran, vor allem junge Frauen, zum ersten Mal Freiheit gespürt. Und wenn man diese einmal erlebt hat, besonders in jungen Jahren, wird sie zu einer sehr süchtig machenden Droge. Wenn 15-jährige Mädchen einen alten Regimeangestellten aus ihrer Madrassa jagen, aus ihrer religiösen Schule, kann man ihnen vielleicht noch mit roher Brutalität Angst einjagen. Aber was wird passieren, wenn sie 16, 18, oder 30 Jahre alt sind? Selbst wenn das Regime diese Schlacht gewinnt, bin ich mir sicher: Es wird den Krieg verlieren.
Und wenn der Iran Zugeständnisse an die Demonstranten machen würde?
Es gibt ein großartiges Buch namens „Dictator’s Learning Curve“ von Will Dobson. Darin wird beschrieben, wie Diktaturen lernen, Proteste zu verhindern. Das lässt sich am besten am Beispiel des Meisters der Verhinderung, China, zeigen. Sie sehen in kleinen Protesten eine Bedrohung, also passen sie sich an und machen einige Zugeständnisse. Das iranische Regime macht das Gegenteil: Seit der letzten Revolution im Jahr 2009 hat es sich nicht mehr auf sein Volk zubewegt. Es ist von der Gesellschaft abgekoppelt, und von den aktuellen Protesten schien es überrascht zu sein. Es reagierte erst langsam und griff dann aber direkt zu roher Gewalt: Es setzt Militär und Polizei gegen Demonstranten ein und richtet sie öffentlich hin. Das ist ein Zeichen von Schwäche.
Wie könnte eine solche Brutalität besiegt werden?
Nehmen wir Nordkorea als Beispiel: Kims Regime hat große Angst vor südkoreanischen Seifenopern. Es gibt Gruppen, die diese auf USB-Sticks über die Grenze schmuggeln. Sie zeigen den Nordkoreanern, wie ihre Brüder und Schwestern im Süden leben. Das Gleiche gilt für den Iran: Viele nutzen Instagram, Tiktok. Norwegen ist ein Land mit viel weniger Ölreserven, aber die Iraner können online sehen, wie es dort aussieht, wie die Menschen leben. Und sie wissen: Das könnten unsere Leben sein. Sie sehen das Potenzial des Iran – und es wird von einer Gruppe bärtiger, konservativer Säcke in ihren Achtzigern zurückgehalten.
Das iranische Regime behauptet immer wieder, die Menschen würden in die Proteste hinein manipuliert. Aber sie werden nicht manipuliert, sie sehen Ungerechtigkeiten in ihrem täglichen Leben und treffen eine Entscheidung. Diktatoren verstehen das nicht, denn sie sehen in ihren Untertanen wirklich Schafe.
Wie kann die internationale Gemeinschaft die Proteste im Iran unterstützen?
Unterdrückung ist eine kostspielige Angelegenheit. Man muss Leute dafür bezahlen, Menschen zu töten. Es gab weitaus reichere Regime als den Iran, die an ihrer wirtschaftlichen Situation und den Sanktionen gescheitert sind. Das Apartheidland Südafrika war einst ein reiches Land. Aber nach internationaler Isolation und nationalen Boykotten stürzte das Regime schließlich, und Mandela wurde Präsident.
Wären Sanktionen also die beste Lösung?
Serbien, wo ich herkomme, war in den 1990ern und frühen 2000ern Ziel von Sanktionen. Es gibt Sanktionen, die ein Regime schwächen, und es gibt Sanktionen, die es stärken, zum Beispiel das Erdölembargo damals gegen Serbien. Es hat die Menschen aus der Mittelschicht an den Rand der Existenz gedrängt, und wenn sie sich dort befinden, haben sie keine Zeit mehr, über Revolution nachzudenken. Sie sind zu sehr mit dem Überleben beschäftigt. Diese sogenannten Shotgun-Sanktionen, die die gesamte Bevölkerung treffen, sind oft kontraproduktiv. Aber „Sniper“-Sanktionen, die auf einige wenige abzielen, sind sehr effektiv.
Da Sie nicht nur Revolutionär, sondern auch Parlamentsabgeordneter in Serbien waren: Wie schafft eine Bewegung den Übergang von Revolutionären zu „Bürokraten“?
Wenn ich bewerten müsste, was der aufregendere Teil war, würde ich sagen: definitiv die Revolution. Der langweilige Teil war die Änderung von Gesetzen und der Aufbau demokratischer Institutionen. Und besonders in Ländern mit einer langen autokratischen Herrschaftsgeschichte wie dem Iran sind die menschlichen Ressourcen, die es dazu benötigt, durch die Diaspora über den ganzen Globus verstreut.
Die Bewegungen brauchen also internationale Unterstützung. Die schwindet oft, wenn die Kämpfe vorbei sind. Das ist ein Fehler, wie uns etwa das Beispiel Ägypten zeigt. Sobald sich eine Gelegenheit bietet, die Macht zu ergreifen, tut das meist die am besten organisierte Gruppe in einer Gesellschaft. In Ägypten waren es zuerst die Muslimbrüder, dann das Militär – und heute ist es wieder ein autokratischer Staat.
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