Ex-Turnerin über Leben als Theaterstar: „Ich wollte über die kaputten Körper reden“
Lange Zeit war Gabi Parigi Turnerin. Nun arbeitet sie am Theater und bringt ihre Erfahrungen aus dem Profisport auf die Bühne.
„16 Jahre, acht Stunden täglich, 108 Wettkämpfe, 43 Flughäfen, 65 Medaillen, achteinhalb Millionen Klappmesser, ein Freund“ – deklamiert Gabi Parigi, 38 Jahre alt, in ihrem alten Turnanzug. Es folgt eine Aufzählung von Verletzungen, Knochenbrüchen und Verschleißerscheinungen. Während die Schilderungen über massiven Machtmissbrauch, insbesondere am Bundesstützpunkt Stuttgart, die deutsche Szene in Aufruhr versetzen, steht die ehemalige argentinische Nationalturnerin und WM-Teilnehmerin 2003 mit ihrem Solostück im renommierten – und ausverkauften – Metropolitan Theater in Buenos Aires auf der Bühne.
taz: Frau Parigi, Seit der Premiere von „Consagrada“ 2021 haben Sie über hundert Vorstellungen gegeben. Wie ist die Idee dazu entstanden?
Gabi Parigi: Ich hätte nie gedacht, dass ich mal ein Stück aufführen würde, in dem es um meine eigene Geschichte geht – dafür habe ich gar nicht das Ego. Aber künstlerische Prozesse haben ihre eigene Magie. Ich wollte ein Solostück machen und darin Themen aufgreifen, die mich umtreiben: Meritokratie, Opferbereitschaft, Wettbewerb, Individualismus, die produktivistische Logik und der Extraktivismus, also der Raubbau, nicht zuletzt am eigenen Körper. In der Arbeit mit Flor Micha, der Regisseurin, habe ich ihr irgendwann die Aufzeichnungen von mir als Turnerin gezeigt. Da meinte sie: Okay, das Stück ist klar.
ist eine ehemalige Turnerin der argentinischen Nationalmannschaft. Absolventin des Circo La Arena, Buenos Aires und des Centre des Arts du Cirque „Le Lido“ in Toulouse. Ende Mai ist ihr Stück „Consagrada“ in Barcelona beim L’Altre Festival Internacional d’Arts Escèniques i Salut Mental zu sehen.
taz: Sie betreten die Bühne mit Bandagen und Tapes, später springen Sie Flickflacks, geben Beleidigungen von Trainern wieder und sind gleich wieder die Turnerin, die sich den Anzug über den Po zieht und leer lächelt. Vertraute Szenen, wenn man den Sport kennt.
Gabi Parigi: Ich wollte über die kaputten Körper reden, diese Dichotomie, dass wir nach außen immer stark und lächelnd wirken, aber Torturen erleiden. Licht auf das werfen, was da ist, was man aber nie sieht und nie ausspricht. Man sieht immer nur den Ausschnitt des Vorzeigbaren, also den Erfolg. Aber der Körper leidet unter dem Erfolg und an den Medaillen. Es gibt Dinge, die ich erzähle, bei denen die Zuschauer denken, das ist Fiktion, aber es sind meine Erfahrungen. Diese Kritik und diese Selbstreflexion sind mir wichtig, aber nicht als moralische Anklage, sondern als Aufnehmen von Fragen, die letztlich über das Spezifische des Turnens und die Logik des Hochleistungssports hinausweisen.
taz: Inwiefern?
Gabi Parigi: Ich höre oft: Na ja, aber so ist das Turnen eben, so ist der Leistungssport eben, aber ich bin überzeugt, dass das auch mit humanen Methoden geht, nicht nur mit der Idee, kurzfristig das Maximale für den nächsten Wettkampf herauszuholen, ohne daran zu denken, dass dieses Kind auch ein Leben nach dem Sport hat.
Es geht darum, dass wir Dinge auch anders machen können und zwar jeder mit der Macht, die er selbst im Alltag hat – auch als Lehrer oder als Elternteil. Also darum, den Fokus der sozialen Vorstellung davon, was Erfolg ist, zu verschieben: Für wen ist es denn ein Erfolg, wenn diejenigen, die mit Medaillen von Olympischen Spielen zurückkehren, körperlich und psychisch kaputt sind? All diejenigen, die auf der Strecke bleiben, haben überhaupt keine Stimme. Die Frage ist letztlich: Will man die Logik der Normalisierung von Machtmissbrauch reproduzieren oder nicht?
taz: Am Ende des Stücks tanzen Sie – dann nicht mehr im Turnanzug – eine Cumbia. Was hat es damit auf sich?
Gabi Parigi: Das ist das Register des „popularen Festes“, der möglichen Transformation. Ich bin mir dessen bewusst, dass die Bühne – des Sports oder des Theaters – wie jeder Raum der Sichtbarkeit auch ein Raum der Macht ist. Am Ende steht viel Energie, viel Antrieb und die berühmte Frage: „Und was machen wir jetzt mit all dem?“
taz: Und welche Antwort haben Sie darauf?
Gabi Parigi: Wir machen es wie Simone Biles! Sie hat sich, als sie bei den Spielen diese Twisties hatte, für ihre Gesundheit und gegen Medaillen entschieden und nutzt seitdem ihre Stimme, um genau für ein solche Haltung zu werben. Das ist eine so starke Botschaft!
taz: Während Sie hier auftreten, gibt es in Deutschland eine Debatte um Machtmissbrauch. Warum wiederholt sich diese Geschichte immer wieder?
Gabi Parigi: Ich glaube, viele Praktiken sind naturalisiert und wir müssen eine gesellschaftliche Debatte führen, die alle angeht, nicht nur den Hochleistungssport. Es geht um eine Transformation, die von Orten der Macht ausgehen muss, Orten, die Werte etablieren und die Politik machen. In dem System selbst gibt es keine Antikörper.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Bundestagswahl
Sollten wir strategisch wählen?
Talkshowgast Alice Weidel
Rhetorisches Rollkommando
Forscherin über Demos gegen rechts
„Das ist kein kurzer Empörungsmoment“
Hilfe bei der Wahlentscheidung
Darum ist der „Real-O-Mat“ besser als der „Wahl-O-Mat“
Debatte um Berufsverbot in Bayern
Rechts außen klappt’s mit der Schule
Energieversorgung in Deutschland
Danke, Ampel!