Ex-Abteilungsleiter für Jugendhilfe über Heimkinder: „Macht wird missbraucht“
Der frühere Jugendhilfe-Abteilungsleiter Wolfgang Hammer kritisiert, dass Kinder ohne triftigen Grund aus der Familie genommen werden.
taz: Herr Hammer, die taz hat über einen Jungen berichtet, der seiner Mutter weggenommen wurde, weil sie sich zu nahe waren, und nun im Heim lebt. Kennen Sie solche Fälle?
Wolfgang Hammer: Leider ja. An mich sind in den letzten fünf Jahren Beschwerden aus Hamburg, Schleswig-Holstein und Niedersachsen herangetragen worden, die sich von früheren deutlich unterscheiden. Als ich noch Abteilungsleiter der Jugendhilfe in der Sozialbehörde war, ging es häufig um kommunikative Missverständnisse, aber es stand immer auch eine Kindeswohlgefährdung im Raum. Bei den 14 Fällen, die ich seither kennenlernte, wurden Kinder aus Familien genommen, ohne dass es eine substantielle Kindeswohlgefährdung gab.
Was ist da der Unterschied?
Es ging bei diesen Fällen immer um eine Einschätzung der Qualität der Erziehung. Es sind alleinerziehende Mütter, die nach Auffassung eines Mitarbeiters eines Jugendamtes psychische Erkrankungen, zu große Nähe zum Kind, Überversorgung haben oder zu oft zum Arzt gehen. Das sind Begründungen, die eher einer Haltung entsprechen: Ich bin jetzt der Ober-Erzieher und beurteile, wie gut die Erziehung in Familien ist. Aber gewisse Unzulänglichkeiten oder Fehler passieren in jeder Familie, in allen Schichten. Selbst wenn diese oft auf Laien-Theorien basierenden Diagnosen stimmen würden, ist ein bloßes Werturteil kein Grund dafür, ein Kind aus der Familie zu nehmen. Das geht gegen unsere Verfassung. Es richtet große Schäden an, wenn man ein Kind von seinen Eltern oder von seiner Mutter trennt.
Ist der Trend neu?
Ja, das ist absolut neu. Sowohl in der Häufung als auch in der Ausschließlichkeit. Bitter ist, dass so eine Einschätzung von Laien substantiell ausreicht, um auch familiengerichtliche Entscheidungen zu begründen.
Wie erklären Sie sich diese Entwicklung?
69, leitete von 1982 bis 2013 die Abteilung Kinder- und Jugendhilfe in der Sozialbehörde, ist heute freier Autor und hat einen Projektauftrag bei der Linksfraktion für die Enquete-Kommission für Kinderrechte und Kinderschutz.
Wenn wir Menschen mit Macht ausstatten, besteht die Gefahr, dass sie diese Macht missbrauchen. Das müssen Führungskräfte wissen, die hier leider versagen, weil sie dem Druck von der unteren und der oberen Ebene nicht standhalten. Ich habe das vor Jahren mit meinem Pflegesohn erlebt. Er war damals zehn Jahre alt und da meinte die Sozialarbeiterin, er müsse zum Ballett, was er nicht wollte. Sie hat gedroht, dass er ins Heim komme. Die Ausübung solcher Macht muss über die Hierarchie-Ebene korrigiert werden. Und zwar in dem Augenblick, in dem die Beschwerde da ist. Der aktuelle Fall, über den die taz berichtet hat, ist typisch. Das Jugendamt begleitet die Mutter und hat eine positive Einschätzung. Plötzlich kommt ein Personalwechsel und es gibt eine gegensätzliche Entscheidung.
Die hat auch noch vor dem Familiengericht bestand.
Leider. Ich habe den Fall eines zwölfjährigen Mädchens, die wurde nie vor Gericht angehört. Oder der eines zwölfjährigen Jungens. In seinem Fall liegt nur die Aussage der Sozialarbeiterin vor, dass das Kind nicht einsehe, dass es von zu Hause weg müsse, und man hoffe, dass das bald geschehe.
Wie haben Sie von den 14 Fällen erfahren?
Die Leute sind an mich herangetreten. Zum Teil sind es ehemalige Jugendamtsmitarbeiter, die das auch kritisch sehen. Oder auch beteiligte Mütter. In drei Fällen ist es gelungen, dass die Kinder wieder nach Hause konnten. Die Mütter haben allerdings Angst, weil das Jugendamt über sie wacht, dass es irgendwann zurückschlägt.
Wo wurden die Kinder hingebracht?
Alle Kinder, deren Fälle ich kenne, wurden außerhalb und weit weg von ihrem Wohnort untergebracht. Alle in Einrichtungen mit rigiden Strukturen und starken Einschränkungen. Oft wird der Kontakt zur Familie untersagt.
Was sollte die Politik tun?
Sie sollte zur Kenntnis nehmen, dass hier etwas schiefläuft. Das hier was mit dem Grundgesetz nicht vereinbar ist. Wir haben bisher die Diskussion, dass die Hürde zu hoch sei, Kinder aus Familien zu nehmen und dass das Kindesrecht zu kurz komme. Jeder Fall, in dem ein Kind zu spät aus der Familie genommen wurde, scheint denen Oberwasser zu geben, die gern früher in Familien eingreifen wollen.
Aber was erwarten Sie jetzt ganz konkret von der Politik?
Sie sollte dies zum Thema machen. Statt in solchen Fällen nach außen wie ein Kadersystem aufzutreten, sollten die Jugendämter zugeben, wenn Fehler passieren und sich entschuldigen. Wir gucken mit Argusaugen, wie die Polizei agiert. Wenn da einer von 100 was falsch macht, ist das ein großes Thema. Aber im Jugendamt ist die Macht, in das Leben von Menschen einzugreifen, viel größer. Wir müssen beim Kinderschutz über diesen Aspekt wachen.
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