piwik no script img

Evakuierungen in der OstukraineDie letzte Verbindung

Pokrowsk ist der letzte Bahnof im Donbass, der noch in Betrieb ist. Täglich werden Alte und Gebrechliche aus dem Frontgebiet evakuiert.

Flucht aus dem Donbass: der Bahnhof von Pokrowsk Ende Mai Foto: Diego Herrera Carcedo/Anadolu Agency/picture alliance

Pokrowsk taz | Es ist Mittag, die Sonne brennt, die Lufttemperatur beträgt 35 Grad. Die Fenster des Bahnhofsgebäudes in der ostukrainischen Stadt Pokrowsk sind mit Sperrholzplatten vernagelt und von innen mit Sandsäcken abgedichtet. Sollte es zu Angriffen kommen, dann, so die Hoffnung, können diese Säcke vielleicht irgendwie Schutz vor Glassplittern bieten. In der Wartehalle halten sich zu diesem Zeitpunkt nur Mit­ar­bei­te­r*in­nen von Rettungsdiensten auf – noch. Rollstühle stehen schon bereit, auch heißes Wasser für Tee ist vorbereitet.

Hier treffen sonst fast minütlich Menschen aus Städten und Dörfern ein, die ununterbrochen angegriffen werden. Ihre einzige Hoffnung, um ihr Leben zu retten: sich evakuieren zu lassen. Der Bahnhof von Pokrowsk befindet sich nur 100 Kilometer von der Frontlinie entfernt, etwa 70 Kilometer nordwestlich von Donezk. Nur noch von hier fahren Züge ab, die die Menschen aus dem Donbass herausbringen. Alle anderen Verbindungen wurden am 8. April eingestellt, nachdem der Bahnhof in der benachbarten Stadt Kramatorsk beschossen worden war. An diesem Tag starben 61 Menschen, darunter viele Kinder. 121 Personen wurden verletzt.

Um überhaupt hierher nach Pokrowsk zu gelangen, müssen die Menschen einen beschwerlichen und gefährlichen Weg auf sich nehmen. Angaben der ukrainischen lokalen Behörden zufolge lebten in diesem von der Ukraine kontrollierten Teil des Gebietes Donezk bis zum 24. Februar rund 1,7 Millionen Menschen. Jetzt sind in dieser Region, die fortwährend von russischen Truppen angegriffen wird, noch 360.000 Personen übrig geblieben. In der Regel sind dies vor allem alte Menschen, die krank, nicht mobil und sich selbst überlassen sind.

Das Warten am Bahnhof hat plötzlich ein Ende. Mehrere Busse mit Menschen, die evakuiert worden sind, halten vor dem Bahnhofsgebäude. Der erste Bus ist gepanzert. Als sich die Türen öffnen, steigen die Ersten aus – ganz langsam und zögerlich. Sie scheinen alle mindestens 60 Jahre oder älter zu sein und haben jeweils nur eine kleine Tasche in der Hand. Später wird klar, dass die 20 Menschen, die mit diesem Bus angekommen sind, alle aus dem Dorf Raigorodok kommen, das in der Nähe der Stadt Slowjansk liegt. Die meisten sind Nachbarn, die in den drei vergangenen Wochen gemeinsam in einem Keller ausgeharrt haben.

20 Tage im Keller

Als Letzte steigt die 81-jährige Nina Romanowa aus dem Bus. Sie hat zwei Pullover an, eine warme Hose und eine Jacke. Ihre Hände umklammern zwei dicke Holzstöcke, die sie anstelle einer Gehhilfe benutzt. „Wo sind wir?“, fragt sie als Erstes. „Hier ist Pokrowsk“, antwortet einer der Freiwilligen. Die Frau hat jede Orientierung verloren, ihr ist heiß und sie versteht kaum, was um sie herum passiert. „Ich habe die vergangenen 20 Tage im Keller verbracht und die Sonne so viele Tage nicht gesehen“, sagt sie.

Raigorodok ist bereits seit Längerem Ziel von russischen Angriffen. Licht, Wasser, Gas und Telefonverbindungen gibt es seit geraumer Zeit nicht mehr. Das Dorf legt zwischen Izjum und Liman – zwei Orten, die russische Truppen vor Kurzem besetzt haben. Wenn die russische Armee die Stadt Slowjansk ein­nehmen will, führt der Weg über Raigorodok. „Unser Dorf wird von Explosionen erschüttert, alles brennt. Das Haus gegenüber von meinem wurde in der vergangenen Nacht zerstört“, sagt Nina Romanowna und fügt hinzu: „Morgen wird auch mein Haus nicht mehr da sein.“

Als Freiwillige gekommen seien, habe sie sich zunächst nicht evakuieren lassen wollen. „Wir hatten doch nur wenige Minuten, um zu packen. Ich habe mitgenommen, was ich konnte“, sagt die alte Frau und öffnet ihre Tasche. Darin sind ihre Dokumente, mehrere Paar Socken und eine Jacke. „Ich habe meine Hausschuhe vergessen! Was soll ich jetzt machen?“, fragt sie verwirrt.

Schon kommt die nächste Frage: „Wohin bringen sie uns? Ich verstehe überhaupt nichts mehr“, sagt sie zu ihrer Nachbarin Ljudmila, die mit ihr im Keller gesessen hat und die sie jetzt nicht aus den Augen lässt. „Nach Dnipro, aber mehr weiß ich auch nicht“, lautet die Antwort der Frau, die ebenfalls ratlos ist.

In diesem Moment kommt ein Freiwilliger zu Nina Romanowna, in der einen Hand hält er einen Tee, in der anderen zwei neue Stöcke. „Das ist für dich, Großmutter. Deine Stöcke werfen wir weg, damit du die schrecklichen Erlebnisse schnell vergisst“, sagt er und lächelt. Die Augen der alten Frau füllen sich mit Tränen, zu unerwartet kommt diese freundliche Ansprache. „Danke“, murmelt sie, mehr kann sie nicht sagen. Doch dann findet sie ihre Worte wieder. „Wir haben so viele gute Menschen in der Ukraine. Ich will so sehr, dass dieser Krieg endet, die Ukraine gewinnt und ich so schnell wie möglich in meine Heimat zurückkehren kann. Ich hoffe so sehr, dass mein Haus noch steht.“

Ihre Nachbarin Ljudmila wurde mit ihrem kranken Mann evakuiert. Während alle anderen von Freiwilligen mit Tee versorgt werden, gibt Ljudmila ihrem Mann in einer Ecke der Bahnhofshalle eine Betäubungsspritze und wechselt seine Windeln. „Damit er die Fahrt besser durchhält“, sagt sie knapp. Obwohl sich ihr Mann zwar langsam, aber selbstständig fortbewegen kann, wird er in einen speziellen Behindertenwaggon gebracht. Später wird jedoch klar, dass es ihm, im Vergleich zu anderen Reisenden, noch relativ gut geht.

Als die meisten Passagiere bereits ihre Plätze im Zug eingenommen haben, steht auf dem Bahnsteig neben dem Eingang des Waggons immer noch eine Schlange von Krankenwagen. Menschen warten darauf, mitgenommen zu werden. Rollstühle, in denen alte Frauen mit bunten Kopftüchern sitzen, stehen in einer Reihe auf dem Bahnsteig. Mit einer speziellen Hebebühne werden sie langsam einzeln in den Waggon gehoben. Dort werden alle von Freiwilligen in Empfang genommen. „Machen Sie sich keine Sorgen! Ihr seid sicher, alles ist in Ordnung“, sagen sie und halten die Hände ihrer Schützlinge.

Am schlimmsten ist es für diejenigen, die aus eigener Kraft nicht einmal aufrecht sitzen können. Freiwillige haben diese alten Menschen aus Gegenden unter starkem Beschuss gerettet, indem sie sie einfach nebeneinander auf Matratzen auf den Boden von Bussen gelegt haben. Für viele von ihnen war dies die einzige Chance, dem Krieg zu entkommen. „Ich will nur eins: dass keiner von ihnen dort allein im Bombenhagel oder vor Hunger stirbt“, sagt ein Helfer, als der letzte bettlägerige alte Mann, den er gerade aus dessen Haus an der Front gerettet hat, in den Waggon getragen wird. „Morgen werden wir wieder dorthin fahren und übermorgen auch. Wir machen das so lange, bis wir alle Menschen gerettet haben, die wir retten können“, sagen die Freiwilligen, die dabei ihr eigenes Leben riskieren.

Dem Bombenhagel entkommen: Eine Frau wird in den Zug transportiert Foto: Francisco Seco/ap

Endlich sind alle Reisenden im Zug. Plötzlich weicht die Sommerhitze einem Gewitter. Blitze und rollender Donner lassen alle aus ihren Fenstern schauen, um sich zu vergewissern, dass es Donner und keine Angriffe sind. Heute reisen etwa 300 Personen in diesem Zug mit sieben Waggons.

Einige von ihnen werden in drei Stunden in Dnipro sein, wo sie ein neues vorübergehendes Zuhause finden werden. Andere werden nach Lemberg fahren. Doch die meisten von ihnen sind auf dem Weg in die Ungewissheit. Sie wissen nicht genau, wo sie in naher Zukunft leben werden, genauso wie sie nicht wissen, wann sie nach Hause kommen. Und ob sie überhaupt einen Ort haben, an den sie zurückkehren können.

Aus dem Russischen: Barbara Oertel

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

2 Kommentare

 / 
  • Die Assoziierung mit der EU plus NATO Aufrüstung plus Hunter Biden's Marshallplan für die Ukraine scheint abgeschlossen. Top Diplomatie, sie können sich nun mit Russland einigen.

  • Tragödien die der Krieg mit sich bringt und Helden die sich mit Mut und Tapferkeit um andere kümmern. Was für ein Bild.



    Die Putin Ära setzt ein erstes grosses und sinnloses Beispiel einer krankhaften Moral - gepaart mit egozentrischem Wahn - entstanden aufgrund einer falschen Ideologie - Geschichtsbuchfüllend für dieses Jahrtausend.

    Das Volk ist nicht für den Staat da.



    Der Staat sollte für das Volk da sein.

    Der Staatsapparat - Russland als Kriegstreiber muss das in seiner Führung noch Lehren.



    Nicht das Volk oder die Einwohner eines Landes. Diese Leiden überall.

    Ich hoffe das irgendein Kreis, dies alles endlich stoppen kann.