Europäische Comics auf Weltniveau: Chaoten, Cowboys und die Apokalypse
Morris und Franquin sind Comiclegenden. Die Schöpfer von „Lucky Luke“, „Gaston“ und „Spirou und Fantasio“ kamen vor 100 Jahren in Belgien auf die Welt.
Mit einem Cowboy, „der schneller schießt als sein Schatten“, begann seine Karriere, und diesem blieb er bis zum Ende treu: Der belgische Comiczeichner Morris (Maurice De Bevere), Schöpfer des Wildwesthelden Lucky Luke, kam vor 100 Jahren, am 1. Dezember 1923, in Kortrijk in Westflandern zur Welt.
André Franquin: die hochwertig ausgestatteten Jubiläumsausgaben erscheinen im Carlsen Verlag. Darunter „Gaston im Schuber“ (5 Bände, 89 Euro); „Spirou Deluxe Bravo Brothers“ (34 Euro); „Gaston: Aus dem Leben eines Chaoten“ (24 Euro); „Franquin: Schwarze Gedanken“ (22 Euro); „Spirou und Fantasio“. Gesamtausgabe in 8 Bänden erscheint mit neuen Covern 2024
Morris: „Lucky Luke“. Neue bibliophile Gesamtausgabe bei Egmont Comic Collection. Bisher erschienen sind die Bände 1 bis 4. Jeweils 216 Seiten, jeweils 39 Euro
Georg Seeßlen: „Lucky Luke. Fast alles über den (gar nicht so) einsamen Cowboy und seinen Wilden Westen.“ Bertz + Fischer, 272 Seiten, 18 Euro
Einen Monat später, am 3. Januar 1924, wurde sein Kollege André Franquin im Brüsseler Bezirk Etterbeek geboren. Dessen Comichelden waren der Hotelpage Spirou, das liebenswerte Pärchen Mausi und Paul, der schluffige Bürobote Gaston oder das Fabeltier Marsupilami. Morris starb 2001, Franquin bereits 1997.
Die beiden Zeichner lernten sich 1944 im Brüsseler Trickfilmstudio CBA kennen. Sie trafen dort auf die späteren „Luc Orient“-Zeichner Eddy Paape oder „Schlümpfe“-Erfinder Peyo. Es galt Zeichentrickfilme nach dem Vorbild Walt Disneys und der Fleischer Studios (Popeye) zu entwerfen. Doch CBA ging nach Kriegsende schnell bankrott. Morris fand danach beim Dupuis-Verlag Beschäftigung, bald ebenso sein arbeitslos gewordener Freund Franquin.
Beide zeichneten sie unzählige Cover für die Illustrierten des Verlages, Bonnes Soirées und Le Moustique. Doch schon 1946 entwarf Morris für das (bereits 1938 gegründete) Comicmagazin Spirou seine erste Lucky-Luke-Episode „Arizona 1880“. Die Serie sollte sich zu einem der besten Westerncomics aller Zeiten entwickeln.
Lustig, unterhaltsam und klug
Mit einer Mischung aus scharfsinniger Parodie und humorvoller Geschichtsstunde begeistert sie bis heute Kinder wie Erwachsene in aller Welt. In der nun erscheinenden anspruchsvoll gestalteten Gesamtausgabe des Egmont Verlags werden die klassischen Lucky-Luke-Hefte von kenntnisreichen Begleittexten umrahmt. Sie beschäftigen sich etwa mit den filmischen Vorbildern des eifrigen Kinobesuchers Morris.
So könnte Lukes treuer Begleiter, das Pferd Jolly Jumper, an den Schimmel Duke angelehnt sein. Auf diesem ritt der junge Kinostar John Wayne in Westernfilmen der 1930er über die Leinwände. Das Pferd wurde wie ein Darsteller auf den Filmplakaten beworben.
Morris selber lebte sieben Jahre in den USA und Mexiko und betrieb dort aufwendige Studien. Er zeichnete Landschaften, sammelte alte Bildbände. In New York lernte er den französischen Comicautor René Goscinny (1926–77) kennen, ebenso die Redaktion des 1952 gegründeten MAD-Magazins. Der neuartige, freche Humor inspirierte zu eigenen Versuchen in die parodistische Richtung.
1955 – Goscinny lebte inzwischen in Paris, Morris war nach Brüssel zurückgekehrt – begannen beide dann ihre Zusammenarbeit an der Comicserie „Lucky Luke“. In ihrem ersten Album „Die Eisenbahn durch die Prärie“ ritt der Cowboy nun erstmals in den Sonnenuntergang, „I’m a poor lonesome Cowboy“ trällernd.
Die Wiedergeburt der Daltons
Auch die Wiederauferstehung der Daltons war ihre gemeinsame Idee. Denn im Debüt, in Morris’ Solo-Album „Gesetzlos“ (1951/52), traten zunächst die vier „echten“ Dalton-Brüder auf. Doch Morris ließ Bob, Grat, Bill und Emmett Dalton am Ende von Lucky Luke erschießen.
Morris erreichten allerdings zahlreiche Zuschriften, er möge doch bitte weitere Geschichten um das an Orgelpfeifen erinnernde Ganoven-Quartett erzählen. Wie konnte eine glaubwürdige Neuinszenierung aussehen? Goscinny hatte da eine Idee. Es müssten „Söhne oder Cousins“ sein. So bekamen Joe, William, Jack und Averell in „Vetternwirtschaft“ (1957) ihren ersten längeren Auftritt.
Goscinny setzte verstärkt auf Humor. Die Darstellung der Banditen zeichnete sich fortan eher durch Dummheit und Gerissenheit aus als durch eine dargestellte rohe Gewalt. Dass die Co-Autorschaft Goscinnys auf Anweisung des Verlags erst nicht genannt werden sollte, zeigt, dass der Beruf des Szenaristen noch keineswegs anerkannt war.
In der Gesamtausgabe sind nun auch seltene kurze Comics (wie die Auszüge aus dem Pariser Unterwelt-Comic „Fred le Savant“, Text von Goscinny) sowie realistische Illustrationen von Morris zu finden. Sie zeigen, wie breit Morris’ zeichnerisches Spektrum war.
Alles über Lucky Luke
Pünktlich zum Jubiläum hat taz-Autor Georg Seeßlen zudem einen sehr lesenswerten Essayband verfasst. Sein Buch „Lucky Luke. Fast alles über den (gar nicht so) einsamen Cowboy und seinen Wilden Westen“ nimmt viele Details der Serie unter die Lupe. Seeßlen analysiert auch heute rassistisch anmutende Klischees, etwa bei der Darstellung von Indianern und anderen Minderheiten.
Sie waren in dieser Zeit nichts Ungewöhnliches. Doch konstatiert Seeßlen auch, dass sie in „Lucky Luke“ in nicht hetzerischer Absicht stattfanden, anders als in so manch heute zu Recht vergessenen Comics.
Auch die frühen Episoden der ebenfalls weltberühmten Comic-Serie „Spirou und Fantasio“, die André Franquin 1946 von Joseph Gillain alias Jijé (1914–80) übernahm, enthält diskriminierende Stereotype. So sahen Gangster oft südländisch oder asiatisch aus, wie es die „Spirou und Fantasio-Gesamtausgabe Band 1“ dokumentiert. Doch Franquin machte rasch Fortschritte und entwickelte sich entgegen solch Stereotypie weiter.
Sein dynamischer und verspielter Strich wurde zum Vorbild einer ganzen Zeichengeneration bei Dupuis. „Spirou und Fantasio“, die Titelserie des Spirou-Magazins, wurde dank Franquins Ideenreichtum und den weiteren von ihm dazuerfundenen Figuren zu einem riesigen Erfolg. Selbst Tim-und-Struppi-Schöpfer Hergé bewunderte ihn und behauptete: „Verglichen mit ihm bin ich ein armseliger Zeichner.“
Bravo-Brothers deluxe
Die Deluxe-Ausgabe von „Bravo Brothers“ enthält eine von Franquins Lieblings-Spirou-Storys von 1965. Sie handelt von einem Affentrio, das die Spirou-Redaktion auf den Kopf stellt. Kommentierte Faksimiles der Originalseiten ergänzen den Band, sodass man Franquins ganze Zeichenund Erzählkunst gut erfassen kann.
Einige Neuausgaben widmen sich auch dem 1957 erstmals im Spirou-Magazin aufgetauchten „Gaston“. Sie ist wohl Franquins anarchischste Figur. Als höchst fauler Gehilfe im (fiktiven) Carlsen-Verlag nervt Gaston durch nutzlose Erfindungen wie dem ohrenbetäubenden „Gastophon“ die Belegschaft und sabotiert (Running Gag!) wichtige Vertragsunterzeichnungen mit „Herrn Bruchmüller“.
Der Gaston-Schuber umfasst eine prägnante Auswahl seiner frühen Streiche im originalen Querformat der belgischen Erstausgabe.
Der Einzelband „Gaston: Aus dem Leben eines Chaoten“ wiederum birgt von Franquin überarbeitete Strips, die bisher nicht auf Deutsch erschienen waren. Einen künstlerischen Höhepunkt innerhalb seines Werks stellen wohl die „Schwarzen Gedanken“ dar. Diese schuf Franquin 1977 bis 1982 unter anderem für das Satiremagazin Fluide Glacial.
Schwarze Schattenrisse
Die meist auf einer Seite abgehandelten Strips zeichnete Franquin ausschließlich in der Form schwarzer Schattenrisse. Mit ihnen entwirft er ein düster-makaber wirkendes, ins Absurde gesteigertes Bild von Gegenwart und Zukunft.
Er kritisiert hemmungslosen Konsum, Umweltverschmutzung, Lebensmittelindustrie, Tierhaltung oder Wettrüsten. Für Franquin waren diese One-Pager ein Experimentierfeld, auf dem er seine düstere Weltsicht kompromisslos und zugespitzt verwirklichen konnte – er selbst umschrieb sie als „rußverschmierter Gaston“.
In einem dieser finsteren Streifen reden intelligente Insekten beiläufig über jene ausgestorbene Spezies, die ihnen „diese netten Städte“ hinterlassen hätten. Im letzten Panel wird klar: Sie krabbeln durch Berge menschlicher Gebeine. Franquin präsentierte sich in „Schwarze Gedanken“ als gereifter, moderner Künstler, der eine Botschaft vermitteln will – dies wie immer auf humorvolle Weise.
Morris war der eigenwillige „lonesome cowboy“ unter den belgischen Zeichnern, ein Meister der grafischen Erzählung. Franquin prägte maßgeblich die „Marcinelle-Schule“. Jenen verspielt-humorigen Zeichenstil aus dem Hause Dupuis, der einen ästhetischen Gegenentwurf zu Hergés „Klarer Linie“ darstellte.
Morris und Franquin erfanden zahllose visuell-narrative Kniffe. Beide trugen dazu bei, dass der europäische Comic Weltniveau erreichte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“