EuGH zu Gründen für subsidiären Schutz: Leichenzählen soll nicht genügen

Der Generalanwalt am EuGH kritisiert die deutsche Rechtsprechung zum subsidiären Schutz. Anlass ist der Fall von zwei geflüchteten Afghanen.

Ein Afghanischer Polizist inspiziert ein zerstörtes Gebäude nach einem Bombenanschlag in der umkämpften Provinz Nangarhar im Osten Afghanistans

Zerstörte Gebäude nach Anschlag in der Provinz Nangarhar im Osten Afghanistans Anfang Februar Foto: Parwiz/reuters

FREIBURG taz | Flüchtlinge sollen auch dann Chancen auf Schutz in Deutschland haben, wenn bei einem Bürgerkrieg in ihrer Heimat weniger als 0,125 Prozent der Bevölkerung pro Jahr getötet werden. Zu diesem Schluss kam der unabhängige Generalanwalt Priit Pikamäe in einem Verfahren am Europäischen Gerichtshof (EuGH).

Konkret geht es um zwei Afghanen aus der umkämpften Provinz Nangarhar im Osten Afghanistans an der Grenze zu Pakistan. Dort kämpfen nicht nur Regierungstruppen gegen Aufständische, sondern auch Taliban gegen den IS und umgekehrt. Alle Seiten nehmen keine oder wenig Rücksicht auf die Zivilbevölkerung. Die beiden Afghanen beantragten in Deutschland subsidiären Schutz, der seit 2004 aufgrund von EU-Recht für Bürgerkriegsflüchtlinge möglich ist. Voraussetzung ist, dass bei der Rückkehr das Leben oder die körperliche Unversehrtheit wegen eines bewaffneten Konflikts „ernsthaft“ bedroht ist.

Doch wie schlimm müssen die Verhältnisse im Heimatland sein, dass schon die bloße Anwesenheit zur Lebensgefahr wird? Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) in Leipzig macht bisher die Vorgabe, dass zunächst die Zahl der Bürgerkriegstoten in einer Region mit deren Einwohnerzahl zu vergleichen ist. Wenn weniger als 0,125 Prozent der Bevölkerung – das ist eine von 800 Personen – jährlich getötet werden, dann müssen andere Kriterien gar nicht mehr geprüft werden.

Der Verwaltungsgerichtshof (VGH) Mannheim zweifelte jedoch, ob diese Vorgabe mit EU-Recht vereinbar ist und legte den Fall dem EuGH vor. Dort hat jetzt der estnische Generalanwalt Pikamäe seine Schlussanträge vorgelegt.

Pikamäe hält die quantitative Prüfung des BVerwG für eine falsche Anwendung des EU-Rechts. So seien schon die zugrunde gelegten Zahlen unzuverlässig. Oft wisse niemand die genaue Zahl der Todesopfer. Aber auch die Bevölkerungszahl könne sich durch Fluchtbewegungen und Vertreibungen schnell ändern. Außerdem könnten aktuelle Eskalationen zu Gefahren führen, die sich noch gar nicht in statistisch erfassten Opferzahlen widerspiegeln.

Der Generalanwalt empfahl daher die Gefahr für RückkehrerInnen durch eine „Gesamtwürdigung“ aller relevanten Tatsachen festzustellen. Dabei könne die Zahl der Todesopfer eine Rolle spielen, aber zudem auch die Art der Kampfhandlungen, die Dauer des Konflikts und die Zahl der Verwundeten. Der EuGH wird in einigen Wochen entscheiden.

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