Ethikrat zu Jugendhilfe: Regeln für Zwangsmaßnahmen
Der Ethikrat befasste sich mit einer Debatte, die bisher keine öffentliche Bühne fand – dem „wohltätigen Zwang“ in der Jugendhilfe.
Konkret geht es um den Paragrafen 1631 b des bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB). Bisher erlaubt dieser Eltern bei Gericht die Unterbringung eines Kindes in einem geschlossenen Heim zu beantragen. Künftig soll ein zweiter Absatz eingefügt werden: Auch wenn Kindern auf längere Zeit in nicht altersgerechter Weise durch „Mechanische Vorrichtungen, Medikamente oder andere Weise“ die Freiheit entzogen wird, soll das erst ein Richter genehmigen.
Nachdem die taz davon im März berichtete, starteten die Hamburger Hochschullehrer Tilman Lutz und Michael Lindenberg aus Hamburg einen Appell, um das Gesetz zu stoppen, mit dem Titel: „Kein Fesseln auf Antrag in der Jugendhilfe“. 50 Professoren der Erziehungswissenschaft unterzeichneten den Aufruf bisher. Denn sie fürchten nicht eine Eingrenzung, sondern eine Legitimierung problematischer Praktiken, die man gar nicht erlauben sollte, wie das langandauernde Festhalten von jungen Menschen durch mehrere Personen mit Griffen, die weh tun.
Doch das Gesetz wurde am 9. März bereits ohne Debatte im Bundestag in erster Lesung verabschiedet. Die Linke forderte eine Sachverständigenanhörung im Bundestags, wo auch die Bedenken der Jugendhilfe zum tragen kommen. Doch der Terminplan im Rechtsausschuss ist prall gefüllt mit anderen Gesetzesthemen. Statt dessen gab es am 27. April im Ausschuss ein nicht öffentliches „erweitertes Berichterstattergespräch“, zudem die Kritiker so kurzfristig eingeladen wurden, dass sie nicht teilnehmen konnten. Quasi stellvertretend bot nun am Donnerstag der Ethikrat ein Forum für diesen Streit. Bei einer Expertenanhörung mit dem diskussionswürdigen Titel „wohltätiger Zwang“ kam auch die Gesetzesänderung zur Sprache.
Fragwürdige Praxis genehmigungsfähig
Gleich den ersten Auftritt hatte der Bielefelder Erziehungswissenschaftler Holger Ziegler, der zum Kreis der Mahner gehört. Er nennt das Gesetz „unfassbar“. Denn der Entwurf spricht davon, dass Praktiken genehmigungsfähig sein sollen, in denen Kindern „in nicht altersgerechter Weise die Freiheit entzogen werden soll“. Damit würden Maßnahmen, die andere als Kindeswohlgefährdung bezeichnen würden, vom Gesetzgeber für genehmigungsfähig erklärt.
Ähnlich deutlich äußerte sich Thomas Meysen vom Deutschen Institut für Jugendhilfe und Familienrecht in Heidelberg, in seinem zuvor schriftlich eingereichtem Statement. Die Regelung erscheine zwar nötig, um auch freiheitsbeschränkende Maßnahmen gegenüber Kindern und Jugendlichen staatlicher Kontrolle zu unterstellen, sei aber „nicht hinreichend“. Denn derartige Mittel öffentlicher Erziehung ließen sich „mit pädagogischen Argumenten nicht legitimieren“, so Meysen. Es wäre gut, dies in dem neuen Gesetz klar zu stellen. Denn nach dem Gesetzentwurf sei die Einschränkung des Anwendungsbereichs allein der familiengerichtlichen Praxis überlassen.
Im Ethikrat fand die Reform aber auch deutliche Fürsprecher. Der Missbrauch solcher Maßnahmen werde durch ein Gerichtsverfahren eher verhindert, argumentierte der Familienrichter Wolfgang Keuter aus Bad Iburg. Denn derzeit dürften Eltern allein über solche Maßnahmen entscheiden, und seien dabei oft dem Druck einer Einrichtung, in der sie ihre Kinder unterbringen wollen, ausgesetzt. Wenn künftig Eltern beantragten, eine Fixierung zu genehmigen, müsste sich erst ein Gericht davon überzeugen, dass es keine milderen Maßnahmen gibt.
Auch Claudia Kittel von der Monitoring Stelle zur Einhaltung der UN-Kinderechtskonvention sprach von einer „absolut notwendigen“ Reform, die eine schon lange identifizierte Rechtslücke schließt. Ähnlich ist übrigens die Position der Grünen, die die Reform mit einem eigenen parallel eingebrachten Gesetzesantrag beförderten. Die Kritik aus der Jugendhilfe sei nicht stichhaltig, hört man von deren Fachpolitikern, weil Zwangsmaßnahmen aus pädagogischen Gründen gar nicht genehmigt werden dürften, sondern nur zur Abwehr von akuter Selbst- oder Fremdgefährdung.
Stellungnahme erst 2018
Doch eben das sieht Kritiker Holger Ziegler anders. Denn im Entwurf heißt es allgemeiner, die Maßnahme müsse dem „Wohl des Kindes“ dienen. Das lasse einen bunten Graubereich von Gründen zu, mahnt Ziegler: „Worin der Fortschritt dieses Entwurfs liegen soll, erschließt sich mir nicht“.
Der 26-köpfige Ethikrat will seine Stellungnahme im nächsten Jahr abgeben. Er befasst sich unabhängig von der Gesetzesreform mit dem Thema Zwang, und führte parallel auch Anhörungen zu den Gebieten Psychiatrie und Behindertenhilfe, sowie eine öffentliche Onlinebefragung für Jedermann durch.
Die Anhörung im Ethikrat hat zumindest die SPD-Abgeordnete Sonja Steffen hellhörig gemacht, die im Rechtsausschuss bei der Reform für ihre Partei die Zuständigkeit hat. „Ich sehe an mehreren Stellen noch Klärungsbedarf“, erklärte sie gegenüber der taz. „Ich bin der Meinung, dass man die Diskussion innerhalb des Ethikrates nicht außen vor lassen sollte und es wichtig ist, die anderen Positionen in Blick zu nehmen“, sagt Steffen nun. „Mir ist es deshalb lieber eine öffentliche Anhörung durchzuführen, wo alle diese Facetten zum tragen kommen. Auch auf die Gefahr hin, dass wir dies in dieser Legislatur nicht mehr zu Ende bringen. Aber dafür ist dies gesellschaftlich und ethisch zu sehr von Bedeutung“.
Das sieht ihre Kollegin von der CDU anders. „Wir wollen das Gesetz noch in dieser Legislatur verabschieden“, sagt Sabine Sütterlin-Waack. Man werde mit den Sachverständigen selbstverständlich noch einmal sprechen, aber „eine zweite Anhörung ist generell nicht vorgesehen“, so die CDU-Abgeordnete. „Denkbar wäre es, eine Klarstellung im Gesetzentwurf aufzunehmen.“
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