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Essayistin Enis MaciLipgloss lässt Kritik erst glänzen

Essays erleben eine Blütezeit. Enis Maci dreht in ihren winzigste Trümmer der Geschichte, bis sie zum Prisma gesellschaftlicher Komplexität werden.

Enis Maci berichtet aus der „Eisdiele Europa“ Foto: Christian Kleiner/Nationaltheater Mannheim

Es ist die Zeit der kleinen Form. Essays, wissenschaftliche, journalistische oder literarische, erleben eine Blütezeit. Knappe, ich-zentrierte Texte, unaufdringlich und doch pointiert in ihrer Gesellschaftskritik, korrespondieren offensichtlich einem neuen Lesebedürfnis. Zadie Smith, Maggie Nelson, Carolin Emcke oder Leslie Jamison sind einige Namen auf der langen Liste der gegenwartsrelevanten Autorinnen, denen es gelingt, die formale Kraft des Essays zu entfesseln: ein Bild, eine Begebenheit oder eine Erzählung assoziativ zu drehen und zu wenden, bis ein mit kritischer Energie aufgeladenes Abbild der Gesellschaft aus dem scheinbar beiläufigen Phänomen entstanden ist.

Schon 2015 hat die Leipziger Literaturzeitschrift Edit die Liste derjenigen, die den Essay souverän zu nutzen wissen, um eine Kandidatin erweitert. Als damals ihr „Zimmer 10“ veröffentlicht wurde, studierte die 22-jährige Enis Maci noch am Deutschen Literaturinstitut Leipzig.

Heute ist sie Dramatikerin und Dramaturgin am Mannheimer Theater und hat jüngst mit „Eiscafé Europa“ acht nachdenkliche, literarisch-autobiografische Essays vorgelegt. Sie kreisen um das Schreiben, das Sammeln und Archivieren in einer krisengeplagten Zeit, sie sind fein gestrickte Plädoyers für Stillstand und Detailbesessenheit.

Krisenphänomene, das sind für Enis Maci die umkämpfte politische Öffentlichkeit, Hass-Rede und der Netzaktivismus der Neuen Rechten, die sie die „Neue Neue Rechte“ nennt. Krise heißt auch: Strukturwandel der Informationssysteme, Datenüberfluss und Datenverlust. Es ist eine Erleichterung, dass sie bei der Krisendiagnose nicht stehenbleibt.

Die Transformation haben wir verpasst

Die Symptome, die Maci aufsucht, werden in der Betrachtung widerständisch und entfalten ein Prisma gesellschaftlicher Komplexität. Den Anfang macht stets eine partikulare Beobachtung, ein Körnchen an gesellschaftlichem Sprengstoff, das Maci seziert, bis daran etwas sichtbar wird.

In „Insel“ geht es darum, wie die Wikipedia das Standardwerk unter den Wörterbüchern, den „großen Wahrig“, abgelöst hat. Die Neugier beim Blättern durch die endlose Anzahl fremder Lemmata taugt nur zur nostalgischen Kindheitserinnerung, Relikt einer anderen Welt: „Wir haben den Übergang nicht ermitteln können, wir haben den Augenblick verpasst, in dem sie eine andere wurde, in dem ihre Produktionsverfahren sich änderten.“

Und doch erkennt Maci ihren kindlichen Blick wieder beim stundenlangen Verfolgen der kollaborativen Schreibprozesse in der Wikipedia, auf ewig archiviert in den Foren des Massenmediums.

Wie umgehen mit den analogen Trümmern der Geschichte? Macis in Albanien aufgewachsener Vater verfasste als junger Mann Märchengeschichten für „Radio Tirana“, heute kennt sie die Märchen nur aus seinen Erzählungen. Ist es möglich, dass in der Zeit des Eisernen Vorhangs die gleichen subversiven Geschichten kursierten? Nüchtern nimmt Maci dem Kulturkonservatismus die Hoheit über das Trauern um Verlorenes aus der Hand. Ihre Fragen finden keine Antwort. Die Linie, die sie von der Vergangenheit ins Heute zieht, ist gebrochen, Nostalgie weder angebracht noch entbehrlich.

Kann Enthaltsamkeit Widerstand sein?

Da ist etwa „Jungfrauen“, ein Essay über den körperlichen Entzug. Kann dieser, fernab von metaphysischen Begründungen, widerständig sein? In Albanien sollen noch einige Dutzend Schwur-Jungfrauen leben. Frauen, die den Schwur der Enthaltsamkeit gegen männliche Privilegien eingetauscht haben. Durch den symbolischen Übertritt entgehen sie der Verheiratung oder treten das den Männern vorbehaltene, familiäre Erbe an. „Burrneshë“, Maci nennt die albanische Bezeichnung für diese Frauen, unter denen auch ihre entfernte Verwandte ist.

Das Staunen, das sie als Kind empfand, angesichts der Unbekannten, die breitbeinig und rauchend auf dem großväterlichen Sessel Platz nimmt, überträgt sich in ein Gedankenspiel: Handelt es sich bei dem Schwur um einen Bruch mit dem Versprechen, das dem Frausein beigegeben ist? Das Versprechen nämlich zum Beute-Sein. Zeigt nicht die Geschichte der Jeanne d’Arc, deren entsagungsreiches Leben auf dem Scheiterhaufen endete, dass Widerstand als passiv, dass Stärke als Entzug denkbar ist?

Enis Maci hat ein Händchen für den Erkenntnisgewinn beim Genau-hinschauen, vielleicht weil sie als Dramatikerin gelernt hat, mit poetischen Unterbrechungen, mit Momenten des Stillstands, zu arbeiten. Das Ich ihrer Texte ist eine hartnäckige, eine mutige Enis, aber auch eine mit Witz. Eine, die auf ihrer ersten Anti-Nazi-Demo im Polizeikessel landet, des rosa Tussi-Outfits wegen aber mühelos freigelassen wird und schlussfolgert: „Manchmal ist es eben das Lipgloss, das eine radikale Kritik erst richtig glänzen lässt.“

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1 Kommentar

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  • Zitat: „Kann dieser (Anm.: der ‚körperliche Entzug‘ der sogenannten ‚Schwur-Jungfrauen‘), fernab von metaphysischen Begründungen, widerständig sein? […] Zeigt nicht die Geschichte der Jeanne d’Arc, deren entsagungsreiches Leben auf dem Scheiterhaufen endete, dass Widerstand als passiv, dass Stärke als Entzug denkbar ist?“

    Himmel! Schon klar, denkbar ist alles. Aber nicht alles, was so denkbar ist für diesen oder jene, muss auch sinnvoll, vernünftig oder plausibel sein. Manches, was gedacht werden kann, ist auch einfach nur Nonsens.

    Für welche arme Sau soll es denn bitte ein „Versprechen“ sein, Beute zu werden? So dämlich sind ja nicht einmal die treuen deutschen Tannenbäume, dass sie einen viel zu frühen Tod in einem überheizten Wohnzimmer einem hundertfünfzig Jahre andauernden Leben in einem naturnahen Wald vorziehen, nur weil ihnen jemand was von zehn Tagen Glanz im Kerzenschein erzählt hat!

    Womöglich sind diese Schwur-Jungfrauen ja nicht ganz umsonst vollkommen aus der Mode heutzutage. Ich persönlich würde jedenfalls laut und vernehmlich pfeifen auf die „Ehre“, dummen, altmodischen, gewaltbereiten und obendrein eitlen Männern das gute Gefühl zu geben, sie wären oder hätten noch irgend etwas, für das sich der Verzicht auf einen wichtigen Teil meiner Identität lohnt.

    Überhaupt: Wie käme ich dazu, Kerlen, die unter dem Gedanken leiden, dass sie nicht jede haben können, das Leben zu erleichtern? Und zwar dadurch, dass ich ihnen garantiere, dass mich gar niemand haben wird, wenn sie es schon nicht sind, die mich zu ihrer Beute machen? Wann und wo leben wir, Leute?

    Wobei… Jetzt, wo ich so darüber nachdenke… Vielleicht kann ein Enthaltsamkeits-Schwur tatsächlich Ausdruck von Stärke sein. Muss ja nicht unbedingt um Sex-Verzicht gehen dabei. Man kann den Machos ja auch ihre Privilegien vor die durchgetretenen Füße spucken. Zumindest dann, wenn sie – wie in meinem Fall - (noch) nicht Teil der eigenen Identität und also auch kein Opfer sind.