Essayistin Enis Maci: Lipgloss lässt Kritik erst glänzen
Essays erleben eine Blütezeit. Enis Maci dreht in ihren winzigste Trümmer der Geschichte, bis sie zum Prisma gesellschaftlicher Komplexität werden.
Es ist die Zeit der kleinen Form. Essays, wissenschaftliche, journalistische oder literarische, erleben eine Blütezeit. Knappe, ich-zentrierte Texte, unaufdringlich und doch pointiert in ihrer Gesellschaftskritik, korrespondieren offensichtlich einem neuen Lesebedürfnis. Zadie Smith, Maggie Nelson, Carolin Emcke oder Leslie Jamison sind einige Namen auf der langen Liste der gegenwartsrelevanten Autorinnen, denen es gelingt, die formale Kraft des Essays zu entfesseln: ein Bild, eine Begebenheit oder eine Erzählung assoziativ zu drehen und zu wenden, bis ein mit kritischer Energie aufgeladenes Abbild der Gesellschaft aus dem scheinbar beiläufigen Phänomen entstanden ist.
Schon 2015 hat die Leipziger Literaturzeitschrift Edit die Liste derjenigen, die den Essay souverän zu nutzen wissen, um eine Kandidatin erweitert. Als damals ihr „Zimmer 10“ veröffentlicht wurde, studierte die 22-jährige Enis Maci noch am Deutschen Literaturinstitut Leipzig.
Heute ist sie Dramatikerin und Dramaturgin am Mannheimer Theater und hat jüngst mit „Eiscafé Europa“ acht nachdenkliche, literarisch-autobiografische Essays vorgelegt. Sie kreisen um das Schreiben, das Sammeln und Archivieren in einer krisengeplagten Zeit, sie sind fein gestrickte Plädoyers für Stillstand und Detailbesessenheit.
Krisenphänomene, das sind für Enis Maci die umkämpfte politische Öffentlichkeit, Hass-Rede und der Netzaktivismus der Neuen Rechten, die sie die „Neue Neue Rechte“ nennt. Krise heißt auch: Strukturwandel der Informationssysteme, Datenüberfluss und Datenverlust. Es ist eine Erleichterung, dass sie bei der Krisendiagnose nicht stehenbleibt.
Die Transformation haben wir verpasst
Die Symptome, die Maci aufsucht, werden in der Betrachtung widerständisch und entfalten ein Prisma gesellschaftlicher Komplexität. Den Anfang macht stets eine partikulare Beobachtung, ein Körnchen an gesellschaftlichem Sprengstoff, das Maci seziert, bis daran etwas sichtbar wird.
In „Insel“ geht es darum, wie die Wikipedia das Standardwerk unter den Wörterbüchern, den „großen Wahrig“, abgelöst hat. Die Neugier beim Blättern durch die endlose Anzahl fremder Lemmata taugt nur zur nostalgischen Kindheitserinnerung, Relikt einer anderen Welt: „Wir haben den Übergang nicht ermitteln können, wir haben den Augenblick verpasst, in dem sie eine andere wurde, in dem ihre Produktionsverfahren sich änderten.“
Und doch erkennt Maci ihren kindlichen Blick wieder beim stundenlangen Verfolgen der kollaborativen Schreibprozesse in der Wikipedia, auf ewig archiviert in den Foren des Massenmediums.
Wie umgehen mit den analogen Trümmern der Geschichte? Macis in Albanien aufgewachsener Vater verfasste als junger Mann Märchengeschichten für „Radio Tirana“, heute kennt sie die Märchen nur aus seinen Erzählungen. Ist es möglich, dass in der Zeit des Eisernen Vorhangs die gleichen subversiven Geschichten kursierten? Nüchtern nimmt Maci dem Kulturkonservatismus die Hoheit über das Trauern um Verlorenes aus der Hand. Ihre Fragen finden keine Antwort. Die Linie, die sie von der Vergangenheit ins Heute zieht, ist gebrochen, Nostalgie weder angebracht noch entbehrlich.
Kann Enthaltsamkeit Widerstand sein?
Da ist etwa „Jungfrauen“, ein Essay über den körperlichen Entzug. Kann dieser, fernab von metaphysischen Begründungen, widerständig sein? In Albanien sollen noch einige Dutzend Schwur-Jungfrauen leben. Frauen, die den Schwur der Enthaltsamkeit gegen männliche Privilegien eingetauscht haben. Durch den symbolischen Übertritt entgehen sie der Verheiratung oder treten das den Männern vorbehaltene, familiäre Erbe an. „Burrneshë“, Maci nennt die albanische Bezeichnung für diese Frauen, unter denen auch ihre entfernte Verwandte ist.
Das Staunen, das sie als Kind empfand, angesichts der Unbekannten, die breitbeinig und rauchend auf dem großväterlichen Sessel Platz nimmt, überträgt sich in ein Gedankenspiel: Handelt es sich bei dem Schwur um einen Bruch mit dem Versprechen, das dem Frausein beigegeben ist? Das Versprechen nämlich zum Beute-Sein. Zeigt nicht die Geschichte der Jeanne d’Arc, deren entsagungsreiches Leben auf dem Scheiterhaufen endete, dass Widerstand als passiv, dass Stärke als Entzug denkbar ist?
Enis Maci hat ein Händchen für den Erkenntnisgewinn beim Genau-hinschauen, vielleicht weil sie als Dramatikerin gelernt hat, mit poetischen Unterbrechungen, mit Momenten des Stillstands, zu arbeiten. Das Ich ihrer Texte ist eine hartnäckige, eine mutige Enis, aber auch eine mit Witz. Eine, die auf ihrer ersten Anti-Nazi-Demo im Polizeikessel landet, des rosa Tussi-Outfits wegen aber mühelos freigelassen wird und schlussfolgert: „Manchmal ist es eben das Lipgloss, das eine radikale Kritik erst richtig glänzen lässt.“
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