Essayband von Schriftsteller Teju Cole: Persönlich, aber nicht privat
In seinen Essays entdeckt Cole in der westlichen Tradition heilende Kräfte. Sie sollen auch wirken, wo koloniale Machtverhältnisse noch fortbestehen.
Eines der großen Themen zeitgenössischer Literatur ist die Identität. Herkunft, Geschlecht, Sexualität, Zugehörigkeit, all das sind uralte Sujets, neu ist, dass Figuren und Erzähler nicht mehr lediglich von ihnen berührt und motiviert werden, sondern sie nun selbst Kampfplätze dieser Kräfte sind. Der zentrale Konflikt ereignet sich da, wo jemand noch nicht ist oder sein darf, was seiner Eigentlichkeit entspricht. Oder dort, wo er gegen ebendiese Bestimmung rebelliert.
Der Schriftsteller Teju Cole steckt mittendrin und leibhaftig in diesen Diskursen. Geboren in Michigan, zog er bald mit seiner Familie nach Lagos. Als Kind blätterte er durch Bildbände, zeichnete und malte unaufhörlich, war in Gedanken bei den Alten Meistern. Später, zurück in den USA, lernt er auf Druck seiner Umwelt, dass er ein „Afrikaner“ sei, freilich ohne zu wissen, was das zu bedeuten hat. Auch schwarz und – im kulturellen und politischen Sinne verstanden – „Schwarz“ zu sein, musste er erst erlernen.
Es sind dies Identitätsmerkmale, die während seiner Sozialisation in Nigeria keine Rolle gespielt hatten und die ihm aber nun beides werden: Fremdzuschreibung, eine oktroyierte Lesart der eigenen Existenz ebenso wie ein Anlass, sich in Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Erwartungen selbst zu entwerfen.
Heute ist Cole ungeheuer viel: Nigerianer und US-Amerikaner, Fotograf, Kurator, preisgekrönter Schriftsteller und Professor für Kreatives Schreiben an der Eliteuniversität Harvard. Doch muss eine Leserschaft all diese Attribute in einer Zeit der autofiktionalen Zeugnisse als oberflächlich betrachten. Wer ist dieser Mann also wirklich? Cole verweigert über weite Strecken seines Essaybands „Black Paper. Schreiben in dunkler Zeit“ eine Antwort. Er erzählt persönlich, doch nicht privat.
Weltbürger, mit Betonung auf dem Wort
Selbst in intimen Momenten, wenn er trauert, wenn ihn die Wut ergreift, wenn er nachts in einem Hotelbett masturbiert, hat man nicht den Eindruck, einen ganzen, baren Menschen zu erkennen, sondern nur, gleich einem fotografischen Negativ, all die Eindrücke und Einfälle, die seine Umwelt in Seele, Kopf und Körper prägen.
Besser also man fragt nicht, wer, sondern wo dieser Mann gerade ist. Zahlreiche seiner Essays sind auf Reisen entstanden, sind Selbsterkundungen im Modus der Irrfahrt. Cole hält sich mal in New York, mal in Benin, Beirut, Oslo, Neapel, Malta oder Berlin auf und findet zumeist rasch einen Zugang zu diesen Orten. Ein Weltbürger präsentiert sich hier, mit Betonung auf dem zweiten Teil des Wortes. Die Welt erscheint vor seinen Augen wie ein Ensemble bürgerlicher Repräsentationsmerkmale.
Der studierte Kunstgeschichtler klappert alle Museen und Galerien ab, bestaunt die Kathedrale von Florenz oder genießt Brahms’ Violinkonzert in der Berliner Philharmonie. Intellektuell anregend ist diese Odyssee, weil am Horizont der historisch zentrale Konflikt identitätspolitischer Debatten aufscheint. Die großen geistigen Errungenschaften des Westens – Universalismus, Demokratie, Nation, Menschenrechte, Kunstautonomie – stehen seit einigen Jahren zur Disposition, weil sie nicht ohne ihre Schattenseiten, die koloniale Ausbeutung anderer Weltteile, Rassismus, Versklavung und Aneignung zu denken seien.
Teju Cole: „Black Paper. Schreiben in dunkler Zeit“. Aus dem Englischen von Anna Jäger und Uda Strätling. Claassen, Berlin 2023, 320 Seiten, 24 Euro
Die Freiheit des abendländischen Bürgers, also des Rollenmodells für das moderne Subjekt schlechthin, sei erkauft worden mit der Entrechtung der anderen. Die Fronten in diesem Konflikt könnten klar sein für einen politisch nicht schwer zu verortenden Künstler wie Cole. In einem Kapitel zu Donald Trump spricht er ganz offen vom „Bösen“, in einem anderen ruft er mit ungebrochen amerikanischem Pathos zum Widerstand auf.
Cole fordert das westliche Erbe heraus
Doch geht er nicht so weit wie jene Aktivisten, die Humanismus und Aufklärung als Instrumente der Knechtung verabschieden. Cole fordert das westliche Erbe vielmehr heraus, bringt es in Resonanz mit der Gegenwart. In einem Text würdigt er abwechselnden zwei seiner Helden: Ludwig van Beethoven und Edward Said, Gründungsvater der postkolonialen Theorie.
Unter dem Stichwort der Differenz treffen sie hier aufeinander, Cole umspielt das musikalische wie politische Motiv und will wohl darauf hinaus, dass der Wiener Klassiker und der palästinensische Rebell in der Tiefenstruktur genug gemein haben, um das jeweilige Werk als Schlüssel des anderen zu verstehen.
Eine Mitstreiterin Saids, Gayatri Chakravorty Spivak, verglich die Aufklärung einmal mit einem Kind, das aus einer Vergewaltigung hervorgegangen sei, und das man dennoch lieben müsse. Ist es das, was Cole hier versucht? Eine Aussöhnung mit dem bösen Erbe, auf das man nicht verzichten darf und will? Auffällig ist jedenfalls sein Ehrgeiz, in der westlichen Tradition heilende Kräfte zu entdecken, die auch dort ihre Wirkung zeitigen, wo koloniale Machtverhältnisse bis heute fortbestehen.
Teju Cole
Intellekt und Emotion unterstützen einander bei diesem Unternehmen wechselseitig, das Gefühl fundiert ethische Dringlichkeiten: „Genau deshalb reise ich, lese ich, interessiere ich mich für die Kunst: um zu ergründen, zu empfinden, zu erzittern.“ Und weiter: „Ich öffne mich, um mich von der ‚Bewusstseinsbildung‘ zu lösen und mich der ‚Zeugenschaft‘ zu nähern, näher ranzukommen, zu fühlen, was ich dort fühle (wo immer ‚dort‘ sei), zu beachten, was meine Sinne mir zutragen, und es in gemeinsame Verantwortung zu überführen, in das Wissen, dass mein Körper – unsere Körper – genau dafür gerüstet sind.“
Literatur und Malerei vermögen zu bilden
Das klingt wie ein Angebot, dem diskreditierten Universalismus zu neuen Ehren zu verhelfen. Nun jedoch nicht mehr als Annahme der Gleichheit aller Menschen vor der Idee einer allgemeinen Würde. Vielmehr geht es Cole darum, sich offen zu halten, die Sinne zu schärfen, um diese Gleichheit in der allgegenwärtigen Gefährdung der menschlichen Kreatur wahrnehmen zu können. Kein genialer Geist, kein Kant, Hegel, Goethe oder Schiller stiftet somit die Erkenntnis, alle Menschen wären Brüder.
Literatur und Malerei vermögen jedoch in einer Weise zu bilden, dass man ein Elend bemerkt und entsprechend zu reagieren weiß. Coles ästhetische Analysen verpflichten sich folgerichtig der Forderung, Moral und Sinnlichkeit zu vereinen. Kunst im Allgemeinen erscheint bei ihm als ein Instrument zur Schulung eines Körpers, der natürlicherweise zu Empathie und Solidarität neigt.
In einem Text entdeckt er in Gemälden Caravaggios ein Wissen um das Unglück der Geflüchteten, die 400 Jahre nach dem Tod des Meisters an die Küsten Italiens gespült werden. Ohnehin ist die Bildwerdung des Leibs, insbesondere des versehrten, für Cole von größtem Interesse.
In einem Essay zur Kriegs- und Krisenfotografie reflektiert er in Anlehnung an ein berühmtes Buch von Susan Sontag, was es bedeutet, das Leid anderer zu betrachten. Die Enthüllung politischer Ungerechtigkeit legitimiert ihm zufolge nicht in jedem Fall die Entblößung ihrer Opfer. „Zu den Menschenrechten gehört auch das Recht, undeutlich, ungesehen und im Dunkeln zu bleiben.“
Schatten, denen sich Cole in mehreren Texten in ästhetischer und politischer Hinsicht widmet, dürfen somit als Schutzzonen verstanden werden, als Orte, an denen Menschen Zuflucht finden, vor Gewalt, vor Blicken, vor Zuschreibungen. Womit schließlich die Frage zu beantworten wäre, wer dieser Mann namens Teju Cole eigentlich ist. Einer, der die Schatten zu schätzen weiß. Einer, der lieber all seine Sinne nutzt, als selbst gesehen zu werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Berliner Sparliste
Erhöht doch die Einnahmen!
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid