Nigerias steigende Preise: Es fehlt die Kraft zum Protestieren
Verdreifachte Benzinpreise, mehr Armut: In Nigeria waren die Lebenshaltungskosten im Vergleich zu Nachbarländern stets hoch. Nun haben sie erneut zugelegt.
Um ihn herum in dem Stadtviertel an der Lagune von Lagos schmunzeln Passant:innen über seinen unvermittelten Wutausbruch. Der hagere Mann spricht aus, was Millionen Menschen in Nigerias Megastadt Lagos täglich erleben. Seit Ende der Benzinsubventionen Ende Juni haben sich die Preise an Nigerias Zapfsäulen verdreifacht. Ein Liter kostet jetzt bis zu 617 Naira, umgerechnet 0,70 Euro – nicht der höchste Benzinpreis der Welt, aber der höchste in Nigerias Geschichte und sehr viel für ein Ölförderland, wo das traditionell sehr billig war.
Die Lebenshaltungskosten in Nigeria sind im Vergleich zu den Nachbarländern stets hoch gewesen. In Lagos war es einst üblich, am Wochenende ins Nachbarland Benin, mitunter sogar bis ins 220 Kilometer entfernte Togo zu fahren, um dort Obst, Gemüse und Getreide einzukaufen. Nur Benzin blieb günstig.
Als vor elf Jahren Nigerias damaliger Präsident Goodluck Jonathan die Benzinpreise von 65 auf 150 Naira mehr als verdoppeln wollte, legten Gewerkschaften und Zivilgesellschaft das Land mit einem nie dagewesenen Generalstreik lahm. Der subventionierte Preis wurde schließlich auf 97 Naira festgelegt, immer noch sehr günstig. Jetzt fällt tatsächlich mit dem Ende der Subvention ein Relikt aus den 1970er Jahren weg, als Nigeria zur Ölgroßmacht aufstieg und eines der wohlhabendsten Länder Afrikas war.
Nicht mal zwei Brote für 1.000 Naira
Die Straßen von Lagos, wo rund 20 Millionen Menschen leben, sind nun selbst in der Stoßzeit am späten Nachmittag ungewohnt leer. Das gilt auch für die Tankstellen, vor denen sich vor allem in Zeiten von Benzinknappheit – Nigeria importiert sein Benzin, weil die eigenen Ölraffinerien nicht funktionieren – manchmal Hunderte Meter lange Schlangen bildeten. Es will niemand mehr tanken: zu teuer.
Sebastian Okeke ist Taxifahrer, der seine Kundschaft über die App Bolt findet. „Die Preise sind so hoch, dass viele Menschen lieber zu Hause bleiben. Ich brauche viel Geld, um überhaupt tanken zu fahren.“ Zwar sind die Fahrpreise ebenfalls gestiegen, aber das decke die zusätzlichen Kosten nicht. „Alle klagen, dass es so teuer geworden ist.“
Die Zahl der Menschen in Armut steigt. Nach Angaben der Zentralbank CBN liegt Nigerias Inflation bei knapp 23 Prozent. Der staatliche Mindestlohn ist aber seit Jahren mit 30.000 Naira unverändert – das sind heute, nach einem deutlichen Verfall der Landeswährung, gerade noch 34 Euro. Das Gehalt eines staatlichen Grundschullehrers ist nur wenig höher, Putzfrauen und Fahrer verdienen vielleicht das Doppelte.
Mit 1.000 Naira kann man nicht einmal mehr zwei Brote kaufen; sechs bis sieben Tomaten kosten aktuell 500 Naira, umgerechnet 0,57 Euro. Gemüse, Obst und Getreide werden mitunter Hunderte Kilometer entfernt angebaut, der Weg nach Lagos ist lang und teuer.
Adedoyin Aganlekoko ist 54 Jahre alt und hat fünf Kinder, aber keinen Mann mehr. „Ich bin Witwe und kämpfe jeden Tag, damit ich Lebensmittel und Schulgebühren zahlen kann“, erzählt sie. Wenn sie irgendwo hin muss, geht sie zu Fuß, um jeden Naira zu sparen.
Gemeinsam mit einer Gruppe von Frauen hat sie in Oworonshoki begonnen, unter einer Stadtautobahnbrücke Tomaten, Kurkuma, Wassermelonen und Chili anzubauen. Das geschieht in Plastiksäcken, um die Bewässerung einfach zu halten. Erfahrung im Gemüseanbau hat keine von ihnen. Alle eint die Hoffnung, mittelfristig weniger für Lebensmittel auszugeben. Sie haben zusammengelegt, um Gießkannen, Saatgut und Säcke zu kaufen. „Die Regierung unterstützt uns doch nicht. Wir müssen selbst etwas tun.“
Den Staat entlasten
Das Ende der Subvention beschloss Nigerias Parlament schon lange vor den Wahlen im Februar. Es soll damit der Staatshaushalt entlastet werden. Nach Angaben der staatlichen Ölgesellschaft NNPC vom Januar gab die Regierung 2022 9,7 Milliarden US-Dollar für Benzinsubventionen aus. Kurz darauf prognostizierte Finanzministerin Zainab Ahmed, dass für die erste Jahreshälfte 2023 7,5 Milliarden US-Dollar nötig seien. Das Geld soll nun anderweitig genutzt werden. Mitte Juli wurde allerdings bekannt, dass im Nachtragshaushalt umgerechnet knapp 80 Millionen Euro für neu gewählte Abgeordnete veranschlagt sind, um ihre Büros auszustatten.
Das Büro von Raymond Anoliefo liegt im Stadtteil Yaba mitten in Lagos. Er ist Leiter des Caritas-Komitees für Gerechtigkeit, Entwicklung und Frieden in der Erzdiözese Lagos sowie Priester einer katholischen Kirchengemeinde. Täglich kommen Menschen zu ihm, die ihre Rechnungen nicht mehr zahlen können und kaum noch Geld für Lebensmittel haben.
Vor der Wahl im Februar, so Anoliefo, hätten sich alle drei landesweit bekannten Spitzenkandidaten für das Ende der Subventionen ausgesprochen. „Trotzdem fehlt es an Programmen, um diese zu kompensieren.“ Auch im Wahlkampf hätten Wähler:innen verstärkt danach fragen müssen. Präsident Bola Tinubu hat mittlerweile Farmern zugesagt, sie mit Düngemitteln und Getreide zu unterstützen.
Was im Land angebaut wird, reicht aber ohnehin nicht für Nigerias 220 Millionen Einwohner:innen. Nach Angaben des NBS wurden vergangenes Jahr Lebensmittel für umgerechnet knapp 2,2 Milliarden Euro importiert. Ausgerechnet jetzt erlebt der Naira ein Rekordtief.
Lag der Wechselkurs bei seiner Einführung im Jahr 1973 zeitweilig bei 2:1 zum US-Dollar, sind es aktuell 792:1; ein Euro ist 875 Naira wert. Das hängt auch mit der Suspendierung des Zentralbankchefs Godwin Emefiele zusammen. Lange soll der Naira-Wert künstlich in die Höhe getrieben worden sein. Der Industrieverband MAN warnte schon vor Wochen vor Problemen: Die Einfuhr von Baumaterialien etwa verteuere sich.
Proteste gegen die Preisexplosion sind, anders als früher, ausgeblieben. Für Proteste reicht die Energie der Leute nicht mehr. Doch könnte sich künftig die Sicherheitslage weiter verschlechtern und es zu mehr Einbrüchen und Überfällen kommen, befürchtet in Yaba der katholische Priester Raymond Anoliefo. „Die Reichen sind durch Mauern und Zäune geschützt oder können ins Ausland gehen. Nicht aber jene, die selbst nicht viel haben.“
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