Essay Europa und die Flüchtenden: Die fehlende Solidarität
Die europäische Idee ist an ihre Grenze gekommen. Doch sie ist nicht verloren. Es ist Zeit für eine Neubestimmung.
Seit der Eurokrise und dem Scheitern im Umgang mit den Flüchtlingen sitzt die Europäische Union auf der Anklagebank. Moralisches Totalversagen heißt der Vorwurf. Das Urteil wird in diesen Wochen von vielen gesprochen, die sich an der Seite der Flüchtlinge sehen. Mit dem Türkei-Deal habe sich die EU endgültig diskreditiert, sie habe ihre normative Basis versenkt wie ein Schlauchboot in der Ägäis.
Im Schnellverfahren wird Europa zur vergehenden Epoche herabgestuft: für den menschlichen Fortschritt unbrauchbar, reif zum Abwracken. Der Zerfall der EU wird nicht mehr als Gefahr betrachtet, sondern als verdiente Folge politischer Verfehlungen.
Die entschiedensten Gegner der EU waren bislang Rechtspopulisten, die mit Verachtung auf Frauen- und Homosexuellen-, auf Grund- und MigrantInnenrechte blicken, für die Brüssels Bürokraten ein Angriff sind auf nationale Souveränität. Aber langsam, so scheint es, erfasst auch die politische Linke eine seltsame Lust am EU-Untergang, die sich als fatalistischer Grundton durch die Flüchtlingsdebatte zieht.
Geschichte des Grenzregimes
Statt der EU aber gehören die Nationalstaaten auf die Anklagebank. Die Geschichte des sich vereinigenden Europa ist auch die Geschichte seines Grenzregimes. Die Öffnung nach innen ging einher mit der Abschottung nach außen. Schengen heißt Frontex, heißt sterben lassen, in einer Größenordnung von mehreren Zehntausend Menschen. Und die EU hat keineswegs nur die Türkei als Türsteher eingekauft, um Flüchtlinge aufzuhalten. Tatsächlich gibt es eine ganze Galerie ähnlich politisch anrüchiger Gestalten, mit denen sie in der Vergangenheit vergleichbare Abkommen geschlossen hat wie mit dem immer weiter abdriftenden türkischen Präsidenten Erdoğan.
Doch die Schließung nach außen ist dem EU-Projekt nicht notwendigerweise eingeschrieben. Das Drama der Flüchtlinge ist nicht die Folge von zu viel europäischer Einigung, sondern von zu wenig. Lampedusa, Ceuta, Lesbos, Keleti, Idomeni – die Politik, für die diese Orte stehen, ist Folge europäischer Nationalismen. Und weniger Europa heißt: noch mehr Grenzen, mehr Abschottung, mehr Tote. Wer mit der Vorstellung einer auch nach außen offenen Gesellschaft etwas anfangen kann, kommt an Europa nicht vorbei. Doch weder die dem europäischen Gedanken innewohnende Idee der Freizügigkeit noch sein Potenzial, den Istzustand zu überwinden, hat dieser Tage noch viele Freunde.
Warum, fragen viele, soll man die EU jetzt verteidigen, wo sie doch nicht einmal die kleinsten, drängendsten Schritte zuwege bekommt, um das Leid der Flüchtlinge zu mildern? Eine jämmerliche Diplomatie, die jahrelang dem Chaos im Süden Europas zusah und am Ende ein lächerliches Umverteilungsprogramm mit Hintertüren und Rücktrittsklauseln beschließt. Eine Union, die Kriegsopfern Militärschiffe entgegenschickt, ein Kontinent voll Stacheldraht und Hartherzigkeit.
Die Antwort lautet: Zwar ist ist die EU ein Selbstbedienungsladen, in dem sich jeder nur nimmt, was ihm passt, was insbesondere für die Stärksten gilt. Aber: Das muss nicht so sein. Doch für ein solidarisches Europa müsste es seine Fehler der Vergangenheit vermeiden. Für diese Fehler steht beispielhaft der Umgang der EU mit Flüchtlingen.
Im Urzustand der EU wurden Flüchtlinge zwischen den Staaten hin und her geschoben. Pate dieser Praxis ist Deutschlands Drittstaatenregelung von 1993: Wer kommt, wird zurückgeschickt in die Länder, durch die er gereist ist. Was die dann mit den Menschen tun, ist deren Problem. Das Dubliner Abkommen von 1997 sollte die Asylzuständigkeit europaweit klären. Ein vernünftiger Gedanke, der aber nur halb umgesetzt wurde und damit alles noch schlimmer machte: Verantwortung wurde nicht zur kollektiven Aufgabe erhoben, sondern den Schwächsten aufgezwungen.
Eine Fehlentwicklung, die 2013 verschärft wurde. Die EU verabschiedete Regelungen, die alle Staaten verpflichten sollte, Flüchtlinge gleichzubehandeln. Doch die Staaten verhandelten das Recht zum Einsperren in das Paket hinein, den Rest ignorierten sie. Und Brüssel war nicht imstande, die Einhaltung der Flüchtlingsrechte gegenüber den nationalen Regierungen durchzusetzen. Weder hatte es die rechtliche Kompetenz noch das politische Durchsetzungsvermögen. Schließlich müssen die Staaten für die Flüchtlinge selbst bezahlen.
Kollektive Aufgabe
Idomeni, ein Drama
Ebenso war es bei der Seenotrettung: Menschen ertranken im Mittelmeer, die Kommission mahnte. Doch um das Retten der Flüchtlinge als kollektive Aufgabe anzugehen, fehlten ihr Kompetenz und Mittel. Staaten wie Italien hätten die Folgen effektiver Rettung allein tragen müssen. Also setzten sie lange auf Abschreckung. Die heutigen Zäune und die Obergrenzen verletzen das EU-Recht. Doch mehr als diplomatische Protestnoten gibt es nicht mehr.
Brüssel finanziert jeden Bauern auf dem Kontinent. Die Kosten für die Aufnahme und Versorgung der Flüchtlinge aber vermochte es nicht zu kollektivieren. Warum war keiner bereit, den Schritt zu einer Gemeinschaftsaufgabe zu gehen, die anteilig von allen finanziert wird? Genau wie eine Seenotrettungsmission, die endlich das Sterben in der Ägäis beendet? Warum ist nicht das, statt des menschenverachtenden Türkei-Deals, die „europäische Lösung“, von der alle reden?
Wenn es so weitergeht wie die EU annimmt, kommt in den nächsten Jahren im Schnitt eine halbe Million Flüchtlinge nach Europa – so oder so. Warum dies nicht akzeptieren und sie legal kommen lassen? Wenn von ihnen jedes Jahr nur etwa jeder Zehnte eine Arbeit findet, wäre für ihre Aufnahme eine Summe von gut 20 Milliarden Euro jährlich aufzubringen. Das ist etwa die Hälfte der jährlichen EU-Agrarsubventionen. Die EU zahlt, alle legen dafür zusammen.
Wenn das europäische Recht auf Freizügigkeit auch auf Flüchtlinge angewandt würde, könnten diese ihren Antragsstaat frei wählen. Niemand müsste per Quote oder Fluchtroute in ein Land, in das er nicht will und das ihn partout nicht will. Die EU könnte im Gegenzug Verletzungen der Flüchtlingsrechte wirksam sanktionieren. Die Feindseligkeit, mit der Flüchtlingen heute vielfach begegnet wird, würde so nicht verschwinden, aber gedämpft. Der Rest wäre dem Effekt zu überlassen, den die Anwesenheit von MigrantInnen meist hervorruft: Die Menschen gewöhnen sich aneinander.
Und warum nicht weitergehen auf einem Weg hin zu mehr Europa? Warum keine EU-Staatsbürgerschaft, immun gegen den völkischen Muff, der den nationalen Staaten immer wieder aufs Neue eingehaucht werden soll? Der Versuch, nationale Zugehörigkeit an Essenzialismen zu knüpfen, ist das zentrale Projekt der laufenden rechten Offensive in Europa. Die Antwort darauf kann lauten, Identität auf nationaler Ebene als heterogen, als vielfältig zu konstituieren.
Doch kaum eine Neubestimmung könnte gründlicher mit dem Ausschluss aufräumen, als eine, die gleich auf europäischer Ebene ansetzt. Wenn an die Stelle einer nationalen Identität eine supranationale tritt, haben die Orbáns und Höckes dieser Welt verloren.
Warum keine Sozialunion?
Und was für Migration gilt, gilt auch für den Rest: Europa ist desto besser, je konsequenter es ist. Warum keine solidarische Fiskalunion, das bis heute fehlende Gegenstück zum Euro? Warum keine Sozialunion, die diskriminierende Maßnahmen im Sozialrecht überflüssig macht und eine echte Perspektive für eine Angleichung des Lebensstandards bietet?
Die EU des Dublin-Regimes, das ihm lange Zeit die Flüchtlinge vom Hals hielt, hat Deutschland gern genommen. Die Währungsunion, dank deren es Krisenprofiteur blieb, während der Rest des Kontinents in die Rezession fiel, ebenso. Die Flüchtlingsunion wollte es erst, als andere Staaten gegen das Dublin-Regime rebellierten und die Nachteile für Deutschland zu überwiegen begannen. Aber da machten andere nicht mehr mit. Die Sozialunion schließt Deutschland bis heute aus. Aber wer diese alte, unsolidarische Art der Gemeinschaft will, muss dem Rest des Kontinents Austeritätspakte aufzwingen. Und sich am Ende mit Erdoğan einlassen.
Die EU ist nicht an den Flüchtlingen gescheitert, sondern an ihrer Unvollendetheit. Bis zu einem echten europäischen Projekt ist es weit. Aber zurück ist es düster.
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