Essay Befreiung des KZ Buchenwald: Haben wir versagt?
Als Buchenwald befreit wurde, schworen wir, alles für eine neue Welt des Friedens zu tun. Aber dieses Ziel ist nicht einmal in absehbarer Nähe.
V or siebzig Jahren, am 11. April 1945, leisteten die Überlebenden des Konzentrationslagers Buchenwald einen Schwur, der mit folgenden Worten endete: „Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung, der Aufbau einer neuen Welt des Friedens ist unser Ziel. Das sind wir unseren ermordeten Kameraden, ihren Angehörigen schuldig. Zum Zeichen der Bereitschaft für diesen Kampf erhebt die Hand zum Schwur!“ Und auf Englisch, Französisch, Russisch, Polnisch und Deutsch ertönte es: „Wir schwören!“
Ich war damals sechzehn Jahre alt und wurde von einem der vielen Sonderkommandos aus Langenstein-Zwieberge befreit. Ich hatte keine Ahnung von diesem feierlichen Akt in meinem „Stammlager“ – das war Buchenwald in der Sprache der SS. Verwundert stellte ich fest, dass ich augenscheinlich am Leben geblieben war. Was in mir genau vorging, kann ich nicht mehr nachvollziehen.
Sicher habe ich nicht an die zukünftige Welt gedacht, sondern wie ich nach Hause nach Jugoslawien kommen kann und ob auch von meiner Familie jemand überlebt hat. Trotzdem war und bin ich davon überzeugt, dass der Schwur auch für mich gilt. Daher habe ich mir alle Verpflichtungen, die mit ihm einhergehen, auferlegt. Auch wenn es pathetisch klingt, darauf bin ich stolz. Aber ich frage mich auch: Haben wir im Laufe der letzten siebzig Jahre eine neue Welt des Friedens geschaffen?
ist Schriftsteller. Er wurde 1929 geboren und am 27. April 1944 verhaftet, nach Auschwitz, danach nach Buchenwald und in einige von dessen Arbeitskommandos überstellt. Nach dem Krieg arbeitete er als Lehrer, als Journalist, Dramaturg, künstlerischer Direktor an verschiedenen Belgrader Theatern. Zudem schrieb er auf Serbisch und Deutsch Gedichte, Erzählungen und Romane, unter anderem „Schattenspringen“ und „Mein schönes Leben in der Hölle“.
Das haben wir nicht.
Ist unser Ziel wenigstens in absehbarer Nähe?
Keineswegs.
Petra Reski hat am eigenen Leib erfahren, wie schwer es ist, das Treiben der Mafia in Deutschland publik zu machen. Das liegt nicht nur am Presserecht, sondern auch an der Weigerung, das Problem sehen zu wollen. Mehr in der taz.am wochenende vom 11./12. April 2015. Außerdem: Auf dem Amerikagipfel treffen sich Obama und Raúl Castro. Was bedeutet die angekündigte Öffnung für das Land, das seit fast sechs Jahrzehnten seinen eigenen sozialistischen Weg geht?. Und: Die Codes der Kunstszene und die Gerüche der Rebellion: eine Begegnung mit der Autorin Rachel Kushner. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Haben wir versagt?
Das Ziel ist nicht erreicht, solange auf der Welt Syrer, Iraker, Libyer, Somalier, koptische Christen, Afghanen oder Palästinenser sterben müssen. Egal ob sie sich am Dorn einer Rose gestochen haben oder ob es aus ihrer durchschnittenen Kehle fließt, ihr Blut ist dasselbe wie unseres.
Es geht um Freiheit
Der Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland warnte vor dem Tragen jüdischer, traditioneller Kopfbedeckung in bestimmten Stadtvierteln. Ich finde es fürchterlich, dass er so etwas sagen musste. Ein Kommentator vom Spiegel, Philipp Löwe, machte dagegen den Vorschlag, möglichst viele Menschen in Deutschland, gerade auch Nichtjuden, sollten eine Kippa tragen.
Damit bin ich nicht einverstanden. Dann nämlich müsste auch empfohlen werden, dass möglichst viele Frauen in Deutschland, gerade auch Nichtmusliminnen, ihre Haare oder sogar ihr Gesicht bedecken sollten. Dabei geht es doch um Freiheit. Jeder soll sich so kleiden, wie er möchte, ohne dass ihm deshalb jemand nach dem Leben trachtet.
Als ich vor etwas mehr als zwanzig Jahren ein Feature für den WDR über mein ehemaliges Lager vorbereitete und die Gedenkstätte auf dem Ettersberg bei Weimar besuchte, sagte ich dem damals neuen Direktor, Volkhard Knigge, er solle seine Arbeit wegen mir nicht unterbrechen, mir aber eventuell einen Mitarbeiter zur Verfügung stellen. Er antwortete jedoch, er wolle sich persönlich um mich kümmern, denn wenn ein ehemaliger Häftling zu Besuch käme, hätte alles andere hintenanzustehen. Bald wird niemand in solche Verlegenheiten kommen, ehemalige Häftlinge werden nicht mehr erscheinen, es sei denn als Gespenster.
Man sagt zu Recht, dass unsere Erinnerungen für die neuen Generationen wachgehalten werden sollen. Wie aber soll das gehen? Ich frage mich, wie wohl der achtzigste Jahrestag der Befreiung von Buchenwald begangen wird. Und wie der hundertste? Der wird mitten im 21. Jahrhundert sein. Was wird dieses Jahrhundert dann zu feiern und zu beklagen haben? Es hat nicht gut angefangen, an viel zu vielen Orten auf dieser Welt lodert der Hass, wird gemordet und vernichtet.
„Ich wurde ausgetauscht“
Viele Buchenwaldhäftlinge waren Helden im Kampf gegen die Nazis und innerhalb des SS-Staates. Meist ist von ihnen die Rede, und sie waren es auch, die den Buchenwaldschwur geleistet haben. Meine Hochachtung! Die meisten von uns aber waren Opfer, rassisch Verfolgte – Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle, Zeugen Jehovas, sogenannte Arbeitsscheue. Wir stehen im Schatten jener Kämpfer.
Über den „Opferaustausch“ ist viel gestritten worden. Ein Überlebender aus Buchenwald klagte sogar gegen den Gedenkstättenleiter, um zu verhindern, dass im Zusammenhang mit seiner Biografie weiter von einem solchen gesprochen wird. Mich geht dieses Thema persönlich an. Denn ich, genauso wie meine Kinder und Enkelkinder, verdanken unser Leben der Tatsache, dass ich ausgetauscht worden bin. So ist belegt, dass ich am 7. Oktober 1944 aus dem Außenkommando Magdeburg in das Stammlager Buchenwald als arbeitsuntauglich zurückgeschickt wurde.
Soviel ich weiß, sollte ich von dort aus weiter nach Auschwitz ins Gas transportiert werden. Stattdessen aber wurde ich in das relativ sichere Außenkommando Niederoschel abkommandiert. Ich weiß nicht, wer das veranlasst hat. Ich weiß nicht, warum. Ich weiß auch nicht, wer an meiner statt auf den Transport zurück nach Auschwitz geschickt wurde. Ich habe es mit der Hilfe der Mitarbeiter der Gedenkstätte Buchenwald versucht zu recherchieren. Es ist uns nicht gelungen, Antworten auf meine Fragen zu finden. Soll ich Gott sei Dank sagen? Soll ich zufrieden sein, weil ich nicht weiß, wer an meiner Stelle ermordet worden ist?
Kein gemeinsames Feiern
Mein kleines Beispiel – eines von sehr vielen – ist, so glaube ich, ein Beweis, dass nicht, wie meist behauptet wird, nur Funktionshäftlinge ihren Kopf auf Kosten anderer retten konnten, sondern dass sie die Verantwortung übernommen haben, uns Unbekannte, die Überlebenschancen hatten, zu retten, und dabei andere opferten. Ich kann glücklich sein, dass ich nie solche Entscheidungen treffen musste, sondern dass über mich entschieden worden ist.
In meiner Heimat, im ehemaligen Jugoslawien, brach vor zwanzig Jahren ein Bürgerkrieg aus. Es ist sinnlos, mit Zahlen zu jonglieren, aber es geht um über einhunderttausend Tote und mehrere Hunderttausend Vertriebene. Und jetzt findet neues unsinniges Morden in der Ukraine statt. Und die Mächte, die Hitlerdeutschland besiegt haben, können sich nicht einigen, den siebzigsten Jahrestag dieses großen Sieges gemeinsam zu feiern.
Wir sind dem Ziel, das sich die Schwörenden gesetzt haben, entgegengeschritten, aber es hat sich immer weiter von uns entfernt.
Tausende Tote in Nigeria
Vor gut zwei Monaten haben Hunderttausende Tafeln und Aufschriften „Je suis Charlie“ getragen, weil zehn Journalisten, Satiriker und Karikaturisten, und auch zwei Polizisten in Paris ermordet wurden. Die gleichzeitig in einem koscheren Lebensmittelgeschäft getöteten Juden fanden etwas weniger Erwähnung.
Und die am selben Tag ermordeten 30 Polizeistudenten in Jemen und die am nächsten Tag in Nigeria ermordeten 2.000 Babys, Kinder, Frauen und Greise waren kaum eine Zeile wert. Jeden Tag werden Menschen von Menschen ermordet. Maxim Gorki hat einst optimistisch gesagt: „Ein Mensch, wie stolz das klingt!“ Dürfen wir zustimmen?
Sicher war nicht alles vergebens. In vielen Teilen der Welt leben die Menschen freier und sicherer und auch länger und gesünder als früher, aber in anderen eben nicht. Die Juden, die meistverfolgten und gepeinigten Opfer, haben auch deshalb ein eigenes Land, einen Zufluchtsort erhalten. Der Staat Israel ist bedroht, aber andere halten ihn für eine Bedrohung.
„Von mir kann man nichts nichts erben“
Mit dem Zustand, in dem wir leben, dürfen wir uns nicht zufriedengeben, die Welt des Friedens und der Freiheit ist nur in einzelnen Ländern geschaffen und neuerdings selbst dort wieder bedroht; und wie wird es weitergehen? Unsere Kinder und Enkelkinder sind nun gefragt. Hoffentlich haben wir sie richtig aufgeklärt und ihnen die richtigen Waffen, Werkzeuge und Ideen anvertraut.
Vermächtnis ist ein großes Wort. Von mir kann man nichts erben. Was wir in den Konzentrationslagern durchgemacht haben, mag und kann ich an niemanden weitergeben, und insofern kann, darf und will ich nicht bestimmen, was der Generation, die das deutsche Erbe antritt, von ihren Großeltern und Urgroßeltern vermacht wird und wie sie damit umgehen soll. Wir, die man Zeitzeugen nennt, treten ab und überlassen die Bühne der Zukunft.
Ich konnte dieses Jahr nicht nach Weimar kommen, konnte in Buchenwald keine Rede halten und mich von den noch anwesenden und den verstorbenen Kameraden verabschieden. Ein persönlicher Abschied hielt mich in Belgrad fest. Es gibt ein kitschiges österreichisches Lied, das einige Zeilen enthält, die ich so gerne mag:
„Sag beim Abschied leise Servus, nicht Lebwohl und nicht Adieu, diese Wörter tun nur weh.“ Servus, Kameraden! Servus, liebe Mitmenschen!
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