Eskalation zwischen Libanon und Israel: Hisbollah auf Vergeltungskurs
Die schiitische Miliz feuert mehr als 320 Raketen Richtung Israel. Die Angriffe setzen die US-Regierung weiter unter Druck, zu vermitteln.
Damit sei die „erste Phase“ ihres Vergeltungsplans nach eigenen Angaben abgeschlossen. In dieser Periode sei es darum gegangen, „israelische Kasernen und Stellungen anzugreifen, um den Durchflug von Angriffsdrohnen zu Zielen tief in Israel zu erleichtern“. Hisbollah-Chef Nasrallah ließ bis zum Sonntagabend offen, wie eine mögliche „zweite Phase“ aussehen werde. Der Angriff sei eine „erste Reaktion“ auf die Tötung des hochrangigen militärischen Kommandeurs Fuad Schukr vor knapp vier Wochen gewesen.
Laut der israelischen Armee hätte der lang erwartete Vergeltungsangriff sehr viel drastischer ausfallen können. Denn in der Nacht hatte die israelische Armee im Rahmen von Präventivschlägen mehr als 40 Stellungen der Schiitenmiliz beschossen. Nach israelischen Angaben hatten rund einhundert Kampfflugzeuge noch vor dem Beginn des Hisbollah-Angriffs einen Großteil der mit Zeitschaltuhren versehenen Abschussvorrichtungen der Miliz zerstört.
Das israelische Onlinemedium Times of Israel berichtete, der Angriff der Hisbollah auf Israel habe der Glilot-Basis gegolten, in der mehrere Geheimdienstabteilungen der Armee sowie das Hauptquartier des Auslandsgeheimdienstes Mossad untergebracht sind. Tote gab es nicht.
Im Libanon führten die israelischen Luftschläge laut des dortigen Gesundheitsministeriums am Sonntag zu zwei Verletzten, beide syrische Staatsbürger, und mindestens drei Toten. Zwei Menschen seien bei einem israelischen Angriff auf das Dorf Tiri und ein dritter bei einem israelischen Drohnenangriff auf ein Auto im Dorf Khiam getötet worden. Die mit der Hisbollah verbündete schiitische Amal-Bewegung meldete den Tod eines ihrer Mitglieder durch israelischen Beschuss und gab an, er stamme aus Khiam. Aus libanesischen Sicherheitskreisen und seitens der staatlichen Nachrichtenagentur NNA hieß es außerdem, Israel habe unter anderem Strom- und Wasseranlagen getroffen.
Insgesamt wurden seit dem 7. Oktober mehr als 600 Menschen durch israelische Angriffe auf den Libanon getötet, zählte die französische Nachrichtenagentur AFP. Unter ihnen seien hauptsächlich Hisbollah-Kämpfer und mindestens 131 Zivilist*innen. Laut israelischem Militär wurden durch die Angriffe der Hisbollah mindestens 23 Soldat*innen und 26 Zivilist*innen getötet. Die Hisbollah und verbündete Gruppierungen hatten ihre Angriffe auf Nordisrael als Antwort auf israelische Attacken um rund 200 Prozent erhöht. Die Zahl der Angriffe auf den Libanon sei dennoch „nach wie vor verhältnismäßig hoch“. Das schreiben Wissenschaftler*innen des Beirut Urban Lab, einer Forschungsgruppe der Amerikanischen Universität Beirut.
Sie überwachen die gegenseitigen Angriffe zwischen dem israelischen Militär und den libanesischen Gruppierungen. Dafür nutzen sie Daten aus lokalen Berichten, die wiederum von der unabhängigen Organisation „Armed Conflict Location and Event Data“ (Acled) zusammengetragen werden.
Zwischen dem 7. Oktober und 15. August habe das israelische Militär demnach insgesamt 7.745 Angriffe auf den Libanon verübt, die Hisbollah wiederum 1.724 auf Israel. Israelische Luftangriffe seien vor allem mit Drohnenangriffen oder durch Beschuss von Kampfjets durchgeführt worden, die Hisbollah nutzte Artillerie und Raketenangriffe.
Während die Anzahl der gegenseitigen Angriffe offensichtlich hoch ist, schrieb Israels Außenminister Israel Katz beim Onlinedienst X: „Wir wollen keinen umfassenden Krieg.“ Doch man werde alles tun, um Israels Bürger zu schützen. Über den Tag beschoss die israelische Luftwaffe weitere Orte im Libanon.
Die Eskalation vom Sonntag erhöht den Druck auf die US-Regierung, die einen drohenden regionalen Krieg abzuwenden versucht. Washington geht dabei mit einer Mischung aus militärischer Drohung und diplomatischem Druck vor. Die USA sind in der Region einerseits mit zwei Flugzeugträgern präsent, andererseits drängen sie darauf, durch Verhandlungen einen Waffenstillstand in Gaza und die Freilassung der noch immer 109 israelischen Geiseln zu erreichen. Die Chefs von Israels Aus- und Inlandsgeheimdienst, David Barnea und Ronen Bar, reisten am Sonntag nach Kairo. Am Samstag war dort bereits eine Hamas-Delegation eingetroffen.
Im Fokus steht etwa die Frage, ob die israelische Armee eine Präsenz entlang der Grenze zwischen dem Gazastreifen und Ägypten aufrechterhalten darf, was sowohl Ägypten als auch die Hamas ablehnen. Weder die Hamas-Führung noch der israelische Regierungschef zeigen sich bisher kompromissbereit. Einen Durchbruch halten Beobachter für unwahrscheinlich.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen