Eskalation in Nahost: Zuspitzung in Nahost

Die Gewalt in Israel und den palästinensischen Gebieten eskaliert erneut. Vorausgegangen war eine tödliche Razzia im Westjordanland.

Israelische Polizisten patrouillieren vor dem Haus des 21-jährigen palästinensischen Angreifers

Israelische Polizisten patrouillieren vor dem Haus des 21-jährigen palästinensischen Angreifers Foto: Ammar Awad/reuters

taz | TEL AVIV Das Ganze werde niemals aufhören, sagt ein junger Israeli am Samstag in Ein Kerem, einem beliebten Ausflugsziel in Jerusalem, einige Kilometer vom Ostteil der Stadt entfernt, wo zuvor zwei Anschläge die Stadt und das Land erschüttert haben. „Frieden wird es hier nicht geben“, sagt er und schlägt die Kofferraumtür zu, „nicht, solange ich lebe.“

Die Ereignisse der letzten Tage haben die ohnehin schon verhärteten Fronten in Israel und den palästinensischen Gebieten weiter zementiert. Am Freitagabend hatte ein palästinensischer Angreifer in der Nähe einer Synagoge in der Ostjerusalemer Siedlung Neve Yaakov auf Spaziergänger geschossen und dabei sieben Israelis getötet und drei verletzt. Der 21-jährige Ostjerusalemer wurde von der Polizei getötet.

Kurz danach folgte der nächste Anschlag: Am Samstagvormittag zielte ein 13-jähriger Palästinenser in der Nähe der Jerusalemer Altstadt mit einer Waffe auf eine Gruppe jüdischer Israelis. Ein Vater und sein Sohn wurden schwer verletzt ins Krankenhaus eingeliefert. Der Attentäter, der aus dem Ostjerusalemer Stadtteil Silwan stammen soll, wurde angeschossen und ebenfalls in eine Klinik gebracht. Medienberichten zufolge ist der Teenager mit Wadi Abu Ramoz verwandt, der am Mittwoch bei Zusammenstößen mit der Polizei in Silwan angeschossen worden war, nachdem er einen Molotowcocktail geworfen hatte. Freitagnacht war Ramoz im Krankenhaus an den Folgen seiner Verletzung gestorben.

Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu besuchte den Tatort in der Ostjerusalemer Siedlung Neve Yaakov und sprach den Familien der Toten sein Mitgefühl aus. Er rief die Israelis auf, keine Selbstjustiz zu üben. Auch Israels rechtsextremer Minister für Nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, begab sich zum Schauplatz des Angriffs. Laut Medienberichten riefen ihm dabei einige zu: „Tod den Terroristen“.

Hazem Qassem, Sprecher der militanten Organisation Hamas, die den Gazastreifen kontrolliert, erklärte gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters, der Anschlag vom Freitag sei eine „Antwort auf die Verbrechen der Besatzungskräfte“ in Dschenin. In der Stadt im Westjordanland hatte die israelische Armee am Donnerstag eine Razzia gegen militante Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen durchgeführt, bei der neun Personen getötet wurden, darunter Zivilist*innen, auch eine ältere Frau. Mindestens 20 Personen wurden zudem verletzt.

Israelische Regierung will Verfahren zum Erwerb von zivilen Waffenscheinen erleichtern

Die Razzia rief unter Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen Entsetzen hervor. Mahmud Abbas, Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde, nannte den Vorfall „ein Massaker der israelischen Besatzungsregierung“. Er rief eine dreitägige Trauer aus. Die Hamas feuerte Raketen auf Israel ab. Das israelische Militär flog Vergeltungsschläge. Eine weitere Eskalation zwischen der Hamas und Israel blieb bislang aber aus. Palästinensischen Medienberichten zufolge feierten Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen am Wochenende im Gazastreifen und im Westjordanland die Terroranschläge gegen Israelis.

Innerhalb Israels sowie im Westjor­dan­land verschärft sich die Situation zusehends. Am Samstagabend beschloss die israelische Regierung als Antwort auf die Anschläge eine Reihe von Maßnahmen. Sie will das Verfahren zum Erwerb von zivilen Waffenscheinen verkürzen und erleichtern. Laut Berichten des Fernsehsenders Channel 11 gibt es sogar Pläne, den Erwerb von Waffen zu subventionieren.

Netanjahu kündigte außerdem an, die Häuser der Attentäter unmittelbar nach dem Angriff zu versiegeln, noch bevor sie, wie auch bislang schon üblich, zerstört werden. Am Sonntag wurde im Ostjerusalemer Viertel Al-Tur das Haus des Attentäters von Neve Yaakov versiegelt. Bereits am Freitag wurden sämtliche Be­woh­ne­r*in­nen des Hauses von israelischen Sicherheitskräften dazu gebracht, das Haus zu verlassen.

Als weitere geplante Maßnahmen sind eine Streichung von Sozialleistungen für die Familien von Attentätern im Gespräch. Auch sollen die Attentäter selbst des Landes verwiesen werden, wobei unklar blieb, wohin sie abgeschoben werden könnten. Zudem kündigte die Regierung am Sonntag an, den Bau von Siedlungen im Westjordanland zu verstärken. Damit wolle man „den Terroristen, die uns aus unserem Land entwurzeln wollen, klarmachen, dass wir hier bleiben“. Was das konkret bedeutet, blieb ebenfalls im Vagen.

Damit geht Netanjahu auf Konfrontationskurs zu den USA. Außenminister Antony Blinken wird am Montag und Dienstag in Israel sowie im Westjor­dan­land erwartet. Anders als die Vorgänger-Administration unter Donald Trump, die der israelischen Siedlerbewegung nahestand, steht die US-Regierung unter Joe Biden der israelischen Siedlungspolitik im besetzten Westjordanland kritisch gegenüber. „Wir werden uns auch weiterhin unmissverständlich allen Handlungen entgegenstellen, die die Aussichten auf eine Zweistaatenlösung untergraben“, hatte Blinken sich geäußert.

Auch die Bundesregierung verurteilte die Terrorangriffe in Jerusalem

Aus Europa kamen als Reaktion auf die jüngste Gewalteskalation mahnende Worte. Man „erkenne Israels legitime Sicherheitsbedenken, die von den jüngsten Terroranschlägen erneut gerechtfertigt werden, voll und ganz an, aber es muss betont werden, dass tödliche Gewalt nur als letztes Mittel eingesetzt werden darf, wenn sie zum Schutz von Leben absolut unvermeidlich ist“, erklärte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell am Samstag.

Zugleich setzte er die Eskalation in den Kontext der jüngsten Geschehnisse. Israelische Sicherheitskräfte hätten seit Beginn des Jahres 30 Palästinenser im Westjordanland getötet. Zudem seien im vergangenen Jahr mehr als 150 Menschen im Westjordanland von israelischen Einsatzkräften getötet worden, darunter 30 Kinder. Er sprach von einer „Spirale der Gewalt“ und forderte, die Friedensgespräche, die seit fast zehn Jahren auf Eis liegen, wieder in Gang zu bringen. Konkrete Vorschläge machte er allerdings nicht.

Auch die Bundesregierung verurteile die Terrorangriffe in Jerusalem. Jetzt brauche es Zusammenarbeit und Dialog zwischen Israel und den palästinensischen Behörden, hieß es in einer Mitteilung des Auswärtigen Amts am Samstag. Die Palästinensische Autonomiebehörde hatte am Donnerstag erklärt, ihre Zusammenarbeit mit Israel in Sicherheitsfragen zu beenden. Allerdings hat Palästinenserpräsident Mahmud Abbas schon öfter mit diesem Schritt gedroht, ohne seinen Worten Taten folgen zu lassen.

Die Sicherheitszusammenarbeit der palästinensischen Führung mit Israel ist einer der bemerkenswertesten Aspekte der komplexen Situation in Nahost. So arbeiten die palästinensischen Sicherheitskräfte – Polizei und Geheimdienst – mit ihren israelischen Kollegen zusammen, etwa um Terroranschläge zu verhindern und mittelfristig ein Erstarken der Hamas, die im Gazastreifen herrscht, im Westjordanland zu unterbinden. Die Kooperation geht zurück auf die Oslo-Verträge der neunziger Jahre, mit denen die Palästinensische Autonomiebehörde geschaffen wurde.

Mahsen Abd Elhadi aus dem arabischen Dorf Iksal in Israel, in der Nähe von Nazareth, macht sich große Sorgen: „Die neue Regierung geht gegen uns palästinensische Israelis an, gegen unsere Interessen und unsere Identität. Und jeden Tag hört man von getöteten Palästinensern im Westjordanland oder einem Anschlag gegen jüdische Israelis.“

2022 war das blutigste Jahr seit dem Ende der zweiten Intifada

Die palästinensische Israelin ist bei der jüdisch-arabischen Graswurzelbewegung Standing Together aktiv und setzt sich für Koexistenz, für Frieden und Gleichheit ein. In ihren Augen hätten zwar sämtliche israelische Regierungen die mehr oder weniger gleiche Ideologie verfolgt. Doch mit der derzeitigen rechtsextremen Regierung steuere das Land auf kriegsähnliche Zustände zwischen Sied­le­r*in­nen und Palästinenser*innen, zwischen Ultraorthodoxen und Säkularen zu.

2022 war das blutigste Jahr seit dem Ende der zweiten Intifada – laut der Menschenrechtsorganisation B’Tselem wurden fast 150 Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen im Westjordanland vom israelischen Militär getötet. Mit der neuen rechtsextremen Regierung, in der radikale Siedler wie Ben-Gvir und Bezalel Smotrich für die Politik im Westjordanland zentrale Ministerposten innehaben, deutet alles darauf hin, dass die Situation 2023 noch stärker eskalieren dürfte.

Hoffnung hat Abd Elhadi kaum. Auf die Straße geht sie trotzdem. Gemeinsam mit den Zehntausenden überwiegend jüdischen Israelis, die in Tel Aviv, Jerusalem, Haifa und anderen Städten des Landes jeden Samstagabend auf die Straße gehen, zieht auch sie los.

Die Demonstrationen richten sich in erster Linie gegen die geplante Justizreform der neuen Regierung und den Abbau der Demokratie. Die Or­ga­ni­sa­to­r*in­nen der Proteste geben sich Mühe, die Demonstrationen, an der Liberale von links bis rechts teilnehmen, nicht mit politischen Themen aufzuladen, die Spaltungspotenzial haben. Das heißt: Dinge wie die Besatzung des Westjordanlandes oder die aktuellen Maßnahmen der Regierung werden so weit wie möglich ausgeblendet. Es gibt dennoch Blöcke, die solche Themen aufgreifen, dazu gehört auch Abd Elhadis Block um Standing Together. Sie ist fest davon überzeugt, dass ein Ende der Besatzung zu Frieden führen kann.

Die Eskalation der letzten Tage, so hört man von Netanjahu-Kritiker*innen, kommt dem Ministerpräsidenten zugute, denn sie lenkt ab von den Massenprotesten. Am Samstag zogen wieder Zehntausende auf die Straßen, doch an die Zahl der vergangenen Woche kam die Demonstration nicht heran. Die Stimmung war gedämpfter. Vereinzelt hörte man Medienberichten zufolge sogar aus dem Protestlager, dass in einem solchen Moment Netanjahu der Rücken gestärkt werden müsse. Der Kampf darum, wer Israel präsentiert – das Protestlager oder die Unterstützer der Regierung –, wird wohl noch eine Weile anhalten. So lange wird auch Abd Elhadi auf die Straße gehen. „Wir dürfen uns nicht spalten lassen“, sagt Abd Elhadi: „Wir müssen zusammen kämpfen. Jüdische und arabische Israelis. Wir haben keine andere Wahl.“

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