Eskalation in Georgien: Gewaltausbruch in Tbilisi
Polizei- und Sicherheitskräfte gehen brutal gegen Teilnehmer*innen von Anti-Regierungsprotesten vor. Auch Journalisten werden gezielt angegriffen.
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Laut Angaben des georgischen Innenministeriums seien 43 Personen „als Ergebnis illegaler und gewalttätiger Aktionen“ festgenommen worden. Sie hätten polizeilichen Forderungen nicht Folge geleistet und sich geringfügigen Rowdytums schuldig gemacht. 32 Polizeikräfte seien verletzt worden. Die Proteste, bei denen auch Gummigeschosse zum Einsatz kamen, dauerten bis zum frühen Freitagmorgen an.
Auf Videos ist zu sehen, wie Spezialeinsatzkräfte Apotheken stürmen, um dort Schutz suchende Protestierende auf die Straßen zu zerren. Neben den regulären Einsatzkräften sollen laut eines Berichts auf dem Webportal JAMNews, auch maskierte, schwarz gekleidete Personen ohne Erkennungszeichen an den Ausschreitungen gegen die Protestierenden beteiligt gewesen sein. Medien und Menschenrechtsorganisationen bemühen sich derzeit um Aufklärung, um wen es sich dabei genau gehandelt hat.
Mehrere Politiker*innen erlitten Knochenbrüche. Informationen des Nachrichtenportals oc-media zufolge seien mindestens 15 Journalist*innen Opfer tätlicher Übergriffe geworden. Die oc-media-Mitarbeiterin Mariam Nikuradze musste sich nach einem Einsatz von Wasserwerfern in ärztliche Behandlung begeben.
Sie mutmaßt, dass das Wasser mit Pfefferspray versetzt gewesen sei. Zudem sei ihr das Mobiltelefon aus der Hand geschlagen worden, nachdem sie den Vorfall gefilmt habe. Ihr Kollege berichtete von einem gezielten Tränengas-Einsatz, obwohl er eine Weste mit der Aufschrift „Presse“ getragen habe.
EU-Integrationsprozess stoppen
Auslöser der Proteste, die auch in den Städten Batumi, Gori und Zugdidi stattfanden, war eine Ankündigung von Regierungschef Irakli Kobachidze bei einem Briefing im Hauptsitz der Regierungspartei Georgischer Traum (KO) vom Donnerstag. Tbilisi werde den Integrationsprozess mit der EU bis auf Weiteres aussetzen und jegliche EU-Hilfen zum Haushalt ablehnen. „Wir werden der Europäischen Union nicht beitreten, indem wir betteln und auf einem Bein stehen, sondern auf würdige Weise mit einem soliden demokratischen System und einer starken Wirtschaft“, sagte Kobachidze.
Einige Stunden zuvor hatte das EU-Parlament mit übergroßer Mehrheit (444 Ja-Stimmen, 72 Nein-Stimmen und 82 Enthaltungen) eine nicht-bindende Resolution zu Georgien angenommen. Darin werden die Ergebnisse der Parlamentswahl vom 26. Oktober nicht anerkannt und eine Wiederholung der Wahl innerhalb eines Jahres unter internationaler Beobachtung und durch eine unabhängige Wahl-Verwaltung gefordert.
Begründet wird dies unter anderem mit zahlreichen Verstößen gegen das Wahlrecht, wie die Beeinflussung und Einschüchterung von Wähler*innen, Versuchen, das Ergebnis zu manipulieren sowie der Behinderung der Arbeit von Medien und Wahlbeobachter*innen. Desweiteren enthält die Resolution die Forderung nach persönlichen Sanktionen gegen einzelne Vertreter des KO – neben Kobachidze auch Parlamentspräsident Schalwa Pauaschwili, den Bürgermeister von Tbilisi Kakha Kaladze sowie den milliardenschweren Oligarchen und KO-Gründer Bidzina Iwanischwili.
Sollte der Georgische Traum seine regelmäßig wiederholten Versprechen einhalten, die politische Opposition zu verbieten, würde dieser Schritt „das Land noch weiter von der EU entfremden und jegliche Schritte in Richtung eines Beitritts unmöglich machen“, heißt es darin weiter. In einer ersten Reaktion auf die Resolution, die vor ihrer Annahme öffentlich geworden war, hatte Kobachidze diese als Fetzen Papier bezeichnet, der einer Diskussion nicht wert sei.
Auf einem Tiefpunkt
Georgien ist seit Dezember 2023 EU-Beitrittskandidat. Mittlerweile sind die Beziehungen zwischen Brüssel und Tbilisi auf einem Tiefpunkt angelangt. Eine erste Zäsur war die Verabschiedung des umstrittenen „Agentengesetzes“ nach russischen Vorbild im vergangenen Mai.
Das Gesetz verschärft die Rechenschaftspflicht von Medien und Nichtregierungsorganisationen, die mehr als 20 Prozent ihrer Mittel aus dem Ausland erhalten. Laut Kritiker*innen gibt dieses Gesetz dem KO die Instrumente an die Hand, um ihm nicht genehme Stimmen und oppositionelle Kräfte mundtot zu machen. Die USA kündigten im Juli an, Hilfszahlungen an Tbilisi in Höhe von mehr als umgerechnet rund 90 Millionen Euro einzufrieren. Zudem verhängte Washington gegen mehrere Abgeordnete des KO Einreisesperren.
Die Parlamentswahlen vom 26. Oktober waren ein weiterer Sargnagel. Offiziellen Angaben zufolge will der KO mit 54 Prozent der Stimmen gewonnen haben. Bereits an Wahltag waren von Beobachter*innen, aber auch Mitgliedern der Opposition schwere Vorwürfe wegen versuchter Manipulationen und Fälschungen erhoben worden.
Dennoch wurde der KO im November zum Wahlsieger erklärt. Alle vier Oppositionsbündnisse, die offiziellen Angaben zufolge die Fünfprozenthürde überwunden hatten, boykottieren das Parlament. Auch sie fordern eine Wiederholung der Wahl.
Eine Stütze der Opposition ist Staatspräsidentin Salome Zurabischwili – noch. Ihr Mandat läuft im Dezember ab, einen anschmiegsamen, politisch bequemen Nachfolger, der vom Parlament gewählt werden wird, hat der KO bereits benannt. Auch Zurabischwili nahm an den Protesten vom Donnerstag teil.
„Ich bin bei diesen Menschen. Der Widerstand hat begonnen und wird nicht enden, bis wir neue Wahlen haben“, sagte sie. Einige Polizeikräfte gemahnte sie an deren Pflicht, Georgiens Souveränität zu schützen und fragte die Betreffenden, ob sie „Russland oder Georgien dienten“. Für diesen Freitagabend sind weitere Proteste angekündigt.
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