Ermittlungsfehler im Fall Anis Amri: Der Skandal weitet sich aus
Hätte die Polizei ihn doch festnehmen und den Anschlag verhindern können? Politiker aller Parteien fordern Aufklärung.
Die Vorwürfe wiegen schwer. Hätte das Berliner Landeskriminalamt, für das Geisel heute politisch verantwortlich ist, doch den Anschlag von Anis Amri auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz verhindern können? Hätte der Islamist doch im Vorfeld festgenommen werden können? Noch dazu: Versuchten Polizisten ihr mögliches Versagen im Nachgang zu vertuschen?
Am Mittwoch hatte Geisel selbst diese Vorwürfe publik gemacht. Bruno Jost, der Berliner Sonderermittler für den Fall Amri, war im digitalen Polizeilichen Informationssystem auf einen LKA-Eintrag gestoßen, in dem Amri der gewerbs- und bandenmäßige Handel mit Drogen vorgeworfen wird. Das war neu: In der bisher bekannten Auswertung einer Telefonüberwachung Amris hieß es, dieser sei nur im „Kleinsthandel“ aufgefallen. Ein Haftbefehl wäre nicht möglich gewesen. So aber hätte eine Inhaftierung doch beantragt werden können.
Mit beiden Einträgen vor sich bemerkte Jost nun, dass das Papier mit dem „Kleinsthandel“ erst am 17. Januar geschrieben wurde, rückdatiert auf den 1. November 2016. Auch waren die Vorwürfe hier deutlich abgeschwächt. Offenbar eine Fälschung. Um die verpasste Chance auf einen Haftbefehl zu vertuschen? Geisel stellte darauf Strafanzeige wegen Strafvereitelung und Urkundenfälschung – gegen das LKA.
Kritik von der Polizei
Als der SPD-Mann im Abgeordnetenhaus spricht, erreicht der Skandal längst den Bund. Von einem „unerhörten Verdacht“ spricht Innenminister Thomas de Maizière (CDU). „Ich erwarte von allen Beteiligten im Land Berlin, dass das jetzt sehr gründlich und sehr offen aufgeklärt wird.“ SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann sagt: „Das schlägt dem Fass den Boden aus.“ Die Vorwürfe müssten restlos aufgeklärt werden. Für Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt ist ein Untersuchungsausschuss im Bundestag nun unumgänglich.
Auch aus der Polizei selbst kommt Kritik. „Wenn sich das bewahrheitet, muss es Konsequenzen haben – bis zur Spitze der Behördenleitung“, sagt Benjamin Jendro, Sprecher der Berliner Gewerkschaft der Polizei (GdP). Das zielt auf den Berliner Polizeichef Klaus Kandt. Dass LKA-Chef Christian Steiof bereits, wie spekuliert, vor dem Aus steht, wies Geisels Sprecher zurück: „Wir sind noch nicht in der Situation, in der wir über Köpfe entscheiden.“
Konkret im Fokus stehen derzeit zwei Beamte der LKA-Abteilung Staatsschutz. Der eine soll den ersten Vermerk verfasst haben, der andere den zweiten, wohl gefälschten. Ermittelt wird auch, ob noch andere Personen involviert waren.
Klar bleibt: Die Sicherheitsbehörden hatten Amri früh im Visier – und verhinderten seinen Anschlag dennoch nicht. Schon im Februar 2016 wurde der Tunesier in NRW als Gefährder registriert. Als er sich mehr in Berlin bewegte, wurde er dort von März bis September 2016 überwacht. Lediglich als „Kleindealer“ sei er dabei aufgefallen, hieß es im Anschluss. Die Überwachung wurde eingestellt. Tatsächlich lockte die Dealerei die Ermittler auf eine falsche Fährte. Amri habe kaum noch gebetet, nicht gefastet und selbst Drogen konsumiert, stellte das LKA fest. So einer begehe doch keinen islamistischen Anschlag, so die Einschätzung damals.
Wohl aber wurde weiter auf eine Abschiebung Amris und einen Haftbefehl gedrängt. Alle Straftaten aber, die man Amri nachweisen konnte – besonders schwerer Diebstahl, Körperverletzung, Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz, Urkundenfälschung, Leistungsbetrug – rechtfertigten keinen Haftbefehl. So hieß es bisher.
GdP-Sprecher Jendro nennt es indes nicht zwingend, dass Amri für gewerbsmäßigen Drogenhandel inhaftiert worden wäre. Die Gerichte würden solchen Anträgen nicht zwangsläufig folgen. „Hunderte von Drogenhändlern laufen mit offenen Haftbefehlen in Berlin herum.“
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