Ermächtigung in der Klimakrise: Syrerinnen gehen baden
Im Nordosten Syriens widersetzen sich immer mehr Frauen den alten Sitten. Extremhitze treibt sie trotz Verbot in öffentliche Schwimmbäder.
Obwohl sich Gesellschaft und Politik öffnen und Frauen beispielsweise in die Arbeitswelt einziehen, gibt es auch in der selbstverwalteten Kurdenregion noch immer konservative Beschränkungen für sie. Das Schwimmen in öffentlichen Bädern, wie es sie in Hassakeh und in den umliegenden Städten gibt, ist zum Beispiel weitgehend Männern vorbehalten. Nur in ganz wenigen Hallen ist das Schwimmen für Frauen an einem oder zwei Tagen in der Woche möglich, und oft auch nicht am Wochenende. Daher werden sie nur von ganz wenigen Frauen besucht.
Dass Darwish mit ins Wasser geht, ist also keine Selbstverständlichkeit. „Ich schwimme jetzt ständig, aber zusammen mit meinem Mann und meinen Kindern“, erzählt sie. So wahre sie trotz des Regelbruchs „den sozialen Wert“ ihres Mannes, meint sie.
Darwish ist nicht allein. Es gibt Hunderte von Frauen, die sich gegen die Einschränkungen auflehnen, nicht mehr Gefangene der Sitten und der Hitze sein wollen. Sie wollen in das kühle Wasser öffentlicher Schwimmbecken eintauchen. So wie die Männer es schließlich auch tun.
Hitzewellen
Dazu tragen auch die außergewöhnlich hohen Temperaturen bei. In Nordostsyrien herrschten zuletzt zeitweise 47 Grad. Mehrere Todesfälle infolge von Sonnenstichen und Dutzende von Krankheitsfällen wurden registriert. Auch weltweit waren die vergangenen drei Monate laut der Weltwetterorganisation die heißesten, die seit Beginn der Aufzeichnungen gemessen wurden. Durch die menschengemachte Klimakrise werden in der Region Hitzewellen intensiver und häufiger. Die Weltgesundheitsorganisation warnte im Mai davor, die steigenden Temperaturen könnten bis zum Ende des Jahrhunderts jährlich weltweit 9 Millionen Leben fordern.
Trotzdem haben nicht alle Verständnis dafür, dass Frauen sich in öffentlichen Schwimmbädern abkühlen – auch viele Frauen nicht. Hiyam Khaled, die eigentlich anders heißt, steht am Beckenrand. Ihr Blick ist starr auf ihre beiden Söhne gerichtet, die sich im Pool vergnügen. Auch ihr Ehemann planscht mit, wirft seiner Frau von Zeit zu Zeit ein paar Wasserspritzer zu. „Ich möchte nicht in eine direkte Konfrontation mit meinem Mann und seiner Familie treten“, sagt die 45-Jährige. „Sie sind an Bräuche, Traditionen und religiöse Vorstellungen gebunden“.
Khaled lehnt es ab, dass Frauen in öffentlichen Bädern schwimmen. Für sie erniedrigt eine Frau sich selbst und ihre Familie, wenn sie in Anwesenheit unbekannter Menschen ins Wasser geht und sich auf eine Situation einlässt, in der sie Belästigungen oder Beschimpfungen ausgesetzt sein könnte. Ihre 13-jährige Tochter Saya ist damit unzufrieden. „Ich weiß nicht, warum wir mit ins Schwimmbad gegangen sind – um zu sehen, wie mein Vater und meine Brüder Spaß haben“, beklagt sie sich. „Und wir?“ Khaled schweigt.
Etappenweiser Regelbruch
Im Gegensatz dazu genießt Simav Fattah eine gewisse Freiheit. „Mein Mann schubst mich geradezu ins Wasser“, sagt die Frau in den Zwanzigern, die mit ihrem Mann in der Ortschaft Darbasiyah lebt. Dass ihr Mann an ihrer Seite ist, verringere die Intensität der Blicke, die sie auf sich ziehe, erzählt sie. „Was mich aufregt und überrascht, sind die Blicke von manchen Frauen. Sie sehen aus wie ich – aber der Unterschied zwischen uns ist, dass sie Feiglinge sind, die Angst haben, die Regeln zu brechen.“ Fattah schwimmt in ihrer normalen Kleidung, nicht in Burkini, Badeanzug oder Bikini. „Gestern hat die Gesellschaft das Schwimmen von Frauen nicht akzeptiert, heute sehen wir Frauen, die gekonnt schwimmen“, sagt sie. „Vielleicht werden sie morgen auch Badeanzüge tragen können.“
Frauen seien die Gruppe, die am meisten unter der Klimakrise und unter den Auswirkungen des Krieges leide, der seit 2011 in Syrien stattfindet, sagt die Journalistin und Menschenrechtlerin Khawla Donia. Noch gebe es viele gesellschaftliche Einschränkungen.
Teilweise kann Donia zufolge Aufklärung helfen. Die Expertin verweist auf Workshops und Diskussionsrunden für Frauen, die zivile Organisationen veranstalten. So könne das Bewusstsein der betroffenen Frauen steigen. Reichen werde das aber nicht, meint Donia. Letztlich brauche es mehr Verbindlichkeit. „Advocacy-Kampagnen mögen nützlich sein, aber sie sind kein Ersatz für Gesetze, die Frauen ihre Rechte zusichern, und für Schutzmechanismen, die den Frauen angesichts der politischen, wirtschaftlichen und klimatischen Veränderungen im Lande zur Verfügung gestellt werden müssen.“
Bis es so weit ist, sind die Frauen auf sich gestellt. Donia meint: „Die Kraft des Wandels liegt in dem Glauben der Frauen an sich selbst angesichts der sich verändernden Umstände, an ihrem Engagement und an ihrem wirtschaftlichen Empowerment.“
Der Artikel ist mit Unterstützung der taz Panter Stiftung entstanden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Preiserhöhung bei der Deutschen Bahn
Kein Sparpreis, dafür schlechter Service
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Housing First-Bilanz in Bremen
Auch wer spuckt, darf wohnen
Ansage der Außenministerin an Verbündete
Bravo, Baerbock!