Erinnerungspolitik in Hannover: Koloniales Unrecht anerkennen
SPD und Grüne in Hannover wollen die koloniale Geschichte der Stadt mithilfe eines Beirats aufarbeiten. Hamburgs Pendant wird kritisiert.
„Hannover hat aufgrund der langjährigen Personalunion mit Großbritannien eine doppelte Kolonialgeschichte“ heißt es in dem Antrag. Zwischen 1714 und 1837 war der König von Hannover aufgrund einer Thronfolgeregelung auch König von Großbritannien – das wie später das Deutsche Reich viele Kolonien hatte – gewesen.
Die Rolle Hannovers und seine „historische Verantwortung im Zeitalter des deutschen, britischen und europäischen Kolonialismus und Imperialismus“ soll mit der Entwicklung eines Erinnerungskonzepts anerkannt werden. Dafür möchten SPD und Grüne einen Beirat einrichten.
In Hannover gibt es bereits seit Jahren Auseinandersetzungen um die Umbenennung von Straßen und Plätzen, wie etwa zur Walderseestraße und zum 1988 zum „Mahnmal gegen den Kolonialismus“ umgestalteten Carl-Peters-Denkmal. Alfred von Waldersee war um 1900 von Hannover aus nach China entsandt worden, um die dortige Boxerbewegung niederzuschlagen, die sich gegen den europäischen Imperialismus zur Wehr setzte. Carl Peters war ein Hannoveraner Kolonialist, der wegen seines brutalen Vorgehens gegenüber der lokalen Bevölkerung im heutigen Tansania bekannt wurde.
Für Liam Harrold, der für die Grünen in der Ratsversammlung sitzt, soll sich der Beirat allerdings nicht nur um Straßenumbenennungen kümmern. Für ihn ist es wichtig, Akteur*innen aus der Stadtgesellschaft miteinzubeziehen, rassistische Strukturen abzubauen und einen Perspektivwechsel auszulösen: „Bisher ist das Thema viel von einer weißen Mehrheitsgesellschaft her thematisiert worden“, sagt Harrold. Laut dem Antrag soll der Beirat ein „dekolonialisierendes Erinnerungskonzept“ ausarbeiten und Handlungsempfehlungen für die Stadt benennen.
Ratsfraktionen von SPD und Grünen
Daniel Kalifa, stellvertretender Vorsitzender des Vereins „Generation Postmigration“ fordert, dass der Beirat multiperspektivisch zusammengesetzt ist und „Expert*innen aus der afrodiasporischen Community dabei sind“, die auf konzeptioneller Ebene mitgestalten sollen. Der Verein setzt sich dafür ein, dass postmigrantische Perspektiven strukturell öffentlich präsent sind. Zudem ist Kalifa wichtig, dass der Beirat mit genug Ressourcen ausgestattet sei und „die Power“ habe, „Sachen umzusetzen“.
In Hamburg gibt es einen vergleichbaren Beirat seit 2019. Dem vorausgegangen war ein runder Tisch, an dem sich sowohl Aktivist*innen als auch Wissenschaftler*innen und Vertreter*innen von Institutionen versammelt hatten. Ulrich Hentschel, ein Teilnehmer des runden Tisches, sieht den Hamburger Beirat skeptisch. Der pensionierte Pastor engagiert sich schon seit Jahren erinnerungspolitisch.
Seiner Meinung nach hat der Beirat die Arbeit des runden Tisches und der zivilgesellschaftlich Engagierten ausgebremst. Zudem kritisiert er die Intransparenz des Beirats: „Der Beirat wurde durch den Kultursenator eingesetzt und hat sich verpflichten lassen, öffentlich nichts zu sagen.“ Es gebe keine Protokolle der Beiratssitzungen, die öffentlich einsehbar seien.
Auch Jürgen Zimmerer, Leiter der Forschungsstelle „Hamburgs (post-)koloniales Erbe“ sieht beim Beirat ein „Transparenzproblem“. Das liege laut Zimmerer vor allem daran, dass „nie genau geklärt wurde, was für ein Beirat das sein soll“. Wie der Beirat arbeitet, hätte seiner Meinung nach vom runden Tisch bestimmt werden müssen. Wenn der Beirat sich äußert, müsse das öffentlich werden und der Senator oder die Behörde müsse dazu öffentlich Stellung nehmen, findet Zimmerer.
Debatte um Öffentlichkeit
Für den Wissenschaftler ist es allerdings wichtig, dass es den Beirat gibt. „Dekolonialisierung muss zwei Pfeiler haben“, sagt er, „einerseits die wissenschaftliche Forschung und Aufarbeitung und andererseits die Perspektive der Betroffenen“. Für den Hannoveraner Beirat hat Zimmerer zwei Empfehlungen: Einerseits brauche der Beirat ein eigenes Budget, zum anderen müsse geklärt werden, welches Initiativrecht der Beirat haben soll.
Enno Isermann, Sprecher der Hamburger Kulturbehörde, erklärt, dass sich der Beirat selbst eine Geschäftsordnung gegeben habe, „in der über die Beratungen selber Vertraulichkeit vereinbart wurde – auch damit dort eine offene Debatte möglich ist“. Darüber hinaus sei „selbstverständlich jeder und jede frei, sich zu äußern“. Die Sitzungen würden protokolliert. Und: „In den deutlich größeren Sitzungen des runden Tisches wird auch über die Arbeit berichtet“, sagt Isermann.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Misogynes Brauchtum Klaasohm
Frauenschlagen auf Borkum soll enden
SPD im Vorwahlkampf
Warten auf Herrn Merz