Erinnerungskultur des Zweiten Weltkriegs: Die Nivellierung des Grauens
Die AfD leugnet NS-Verbrechen nicht, erklärt sie aber zu einem unbedeutenden Teil der Geschichte – und wehrt damit die Erinnerung daran ab.
Doch Kirchner, AfD-Fraktionschef im Landtag von Sachsen-Anhalt, wählt einen anderen Fokus, als er ans Redepult tritt. Er sagte: „Der 8. Mai ist kein Tag zum Feiern, sondern ein Tag zum Gedenken.“ Und er spricht vom „sogenannten Tag der Befreiung“, von „militärischer Niederlage und Kapitulation der deutschen Wehrmacht“ und den Folgen davon: „die Besetzung und Teilung Deutschlands, die millionenfache Vertreibung Deutscher aus Mittel- und Osteuropa, der Verlust der deutschen Ostgebiete, eine stalinistische Diktatur in der Ostbesatzungszone sowie der Kalte Krieg“.
In Kirchners kurzer Rede steckt vieles, was den Umgang der AfD mit Nationalsozialismus und Holocaust, Wehrmacht und Zweiten Weltkrieg generell ausmacht. Die Partei erwähnt die nationalsozialistischen Verbrechen höchst ungern und wenn, dann werden sie durch andere Gräueltaten relativiert. Ihre Opfer kommen kaum vor – stattdessen werden die Täter zu Opfern umgedeutet.
Einer, der geschichtspolitisch in der AfD den Ton angibt, ist Alexander Gauland, Fraktionschef im Bundestag. Der 79-Jährige ist Jurist, hat sich aber sein ganzes Leben lang mit Geschichte befasst. „Hitler hat sehr viel mehr zerstört als die Städte und die Menschen. Er hat den Deutschen das Rückgrat gebrochen, weitgehend“, sagte er bereits im April 2016 in einem Interview. Und wenig später behauptete er gar, der Nationalsozialismus sei eigentlich „etwas zutiefst Antideutsches“.
Identifikation mit Wehrmacht
Anders als die alten Rechtsextremen leugnet die AfD die nationalsozialistischen Verbrechen nicht. „Aber man möchte sich auch nicht vom Nationalsozialismus distanzieren. Man empfindet den 8. Mai nicht als Befreiung, sondern nach wie vor als Niederlage“, sagt der Politikwissenschaftler Samuel Salzborn, der die Geschichtspolitik der AfD analysiert hat. „Man identifiziert sich weiter mit der Wehrmacht, in der zwar einige ‚Fehler‘ gemacht hätten, die aber grundsätzlich einen guten Kern gehabt habe.“ Das zeige auch Gaulands Forderung, die Deutschen müssten das Recht haben, „stolz auf die Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen“ zu sein.
Strategisch, meint Salzborn, knüpfe das an die Geschichtspolitik der Regierung Kohl an. Auch diese versuchte, die NS-Vergangenheit hinter sich zu lassen – sie stand der politischen Souveränität im Weg und dem Ziel, mit den Verbündeten im Westen auf Augenhöhe umzugehen. Einer der viel kritisierten Höhepunkte der Kohl’schen Erinnerungspolitik: Der gemeinsame Besuch mit US-Präsident Ronald Reagan am 5. Mai 1985 auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg, auf dem auch Angehörige der Waffen-SS begraben sind. Wenige Tage nach dem Besuch sprach Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner Rede zum 40. Jahrestags des Kriegsendes im Bundestag vom „Tag der Befreiung vom menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“.
Wie bei Kohl gebe es auch bei der AfD eine Tendenz zur Nivellierung der Schuld, sagt Salzborn. „Der Nationalsozialismus wird zu einem unbedeutenden Teil der deutschen Geschichte erklärt.“ Das bekannteste Beispiel bei der AfD: Gaulands Äußerung, „Hitler und die Nazis“ seien „nur ein Vogelschiss in über 1.000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte“ gewesen.
Im Geiste von Björn Höcke
Die Schlussfolgerung daraus: Björn Höckes Forderung nach einer „erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad“. Gedächtnispolitik, wie sie heute betrieben werde, sei „darauf ausgelegt, den Daseinswillen der Deutschen als Volk und Nation zu brechen“, klagte auch der kulturpolitische Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion, Marc Jongen. Und der AfD-Bundestagsabgeordnete Jens Maier erklärte gleich „diesen Schuldkult für beendet, für endgültig beendet“.
Konkret wurde die baden-württembergische AfD-Landtagsfraktion schon 2017: Sie forderte, die Landesförderung für die NS-Gedenkstätte Gurs in den französischen Pyrenäen zu streichen. Und ihre bayerischen KollegInnen verließen im Januar 2019 den Saal, als Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, anlässlich des Holocaustgedenktages eine Ansprache im Landtag hielt und die AfD kritisierte.
Statt kritischer Aufarbeitung will die AfD eine identitätsstiftende Geschichtsvermittlung, die sich auf die „großartigen Leistungen der Altvorderen“ bezieht. „Die aktuelle Verengung der deutschen Erinnerungskultur auf die Zeit des Nationalsozialismus ist zugunsten einer erweiterten Geschichtsbetrachtung aufzubrechen, die auch die positiven, identitätsstiftenden Aspekte deutscher Geschichte mit umfasst“, heißt es entsprechend im AfD-Grundsatzprogramm.
Völkische Vorstellungen
Hinzu komme, führt Salzborn aus, dass die AfD „empathiefrei“ im Bezug auf die Opfer des Nationalsozialismus sei. „Es gibt eine tief verwurzelte Vorstellung vom deutschen Volk – und die Opfer des NS gehören im Verständnis von vielen in der AfD eben nicht dazu.“ Völkische Vorstellungen seien in der AfD tief verwurzelt und ein Ziel sei eben auch, Kategorien wie Volk oder Nation wieder als homogene Gruppen zu konstruieren. „Jüdinnen und Juden, Roma, Homosexuelle oder auch Kommunisten, die passen da nicht.“ Die damalige Parteichefin Frauke Petry hatte schon 2016 gefordert, dass der Begriff „völkisch“ wieder positiv besetzt werden solle.
Während sich bei der Beschreibung der AfD-Geschichtspolitik viele ExpertInnen einig sind, ist ihre Bedeutung für den Erfolg der Partei umstritten. „Die Geschichtspolitik ist für den Erfolg der AfD sehr viel zentraler, als wir das oft annehmen“, sagt Salzborn. „Sie knüpft an die Erinnerungsabwehr an, die in der deutschen Bevölkerung sehr verbreitet ist.“ Nur ein kleiner Teil von dieser habe den Nationalsozialismus erfolgreich aufgearbeitet. Man wolle sich damit nicht mehr beschäftigen. Für Salzborn ist klar: „Der offensichtliche Geschichtsrevisionismus ist eines der Kernthemen der AfD, das die Wähler mobilisiert.“
Anders sieht das der Politikwissenschaftler Gideon Botsch, der die AfD ebenfalls seit Langem kritisch verfolgt. Aus seiner Sicht haben die genannten Äußerungen von Gauland, Höcke und Co. vor allem zwei Funktionen: Sie senden gezielt Signale an radikal-nationalistische und rechtsextreme WählerInnen, um diese zu gewinnen. Und sie sind im parteiinternen Machtkampf zugleich eine Attacke auf die Kritiker. „Mit Blick auf die gesamte Wählerschaft“, kommt Botsch zu dem Schluss, „kann das aber auch nach hinten losgehen.“
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