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Erinnerung an die SchoahIm Grenzland

Im polnisch-litauischen Grenzgebiet deportierten 1939 die Deutschen zahlreiche jüdische Familien. Eine Stiftung kämpft dort nun gegen das Vergessen.

Auch diese Familie, die Furmańskis, wurde von den Deutschen deportiert. Nur einer überlebte: Max Foto: Leonhard F. Seidl

Sejny taz | Eine Schwarzweißfotografie hängt heute in der Weißen Synagoge von Sejny, im polnischen Grenzland zu Litauen. Ein Porträt von Max Furmańskis 18-köpfiger jüdischer Familie. Alle Familienmitglieder blicken direkt in die Kamera. Nur Max nicht. Max wird der Einzige sein, der den Holocaust überlebt.

Zu Beginn des Jahrtausends kehrt diese Max Furmański im Alter von fast 80 Jahren dorthin zurück, wo das Bild entstand. Und wieder war eine Kamera dabei, diesmal eine Videokamera. Mit dem Auto vom Flughafen in Warschau kommend, fuhr Furmański vier Stunden Richtung Nordosten an die Grenze zur ehemaligen UdSSR; in die ländliche Kleinstadt Sejny, die man in sieben Minuten zu Fuß durchqueren kann.

1919 wechselte sie in kriegerischen Auseinandersetzungen elfmal zwischen Polen und Litauen. Dort lebten einst Roma, Altorthodoxe, Christen, Juden, Polen und Litauer zusammen. 1939 vertrieben die Deutschen 814 Juden aus ihren Häusern. Mit erhobenen Händen mussten sie ihre Stadt verlassen, einige übergaben den Nachbar*innen, die zusahen und nicht eingriffen, die Schlüssel zu ihren Häusern. Die Schlüssel sind heute in der Weißen Synagoge ausgestellt.

Auch der fünfzehnjährige Max wird mit seiner Familie in ein Lager deportiert, von wo aus die Deutschen den Abtransport in ein Konzentrationslager organisierten.

Gegen die Geschichtsvergessenheit der PiS

Auf dem Weg dorthin stößt ihn sein Vater gegen seinen Willen aus dem Güterwagon. Max flüchtet, gelingt über Budapest und Argentinien nach Israel. 2002 kehrt er zurück. In die Weiße Synagoge, deren Inneneinrichtung von den Nazis vernichtet worden war und in der er mit seiner Familie gebetet hatte, wagt er zuerst nicht einzutreten. Und dann tat er es doch; Klezmer-Klänge empfingen ihn.

Zwei Jahre später weihte er mit Menschen aus Sejny einen Gedenkstein auf dem ehemaligen jüdischen Friedhof ein. Furmańskis Leben, das mittlerweile geendet hat, ist heute Teil der Geschichte der Stiftung „Grenzland der Künste, Kulturen und Nationen“.

Mit gegründet hat das Projekt die heute 55-jährige Bożena Schroeder. Die Frau im schwarzen Kleid und mit rotem Schal begrüßt die Be­sucher*innen herzlich im Zentrum, der ehemaligen Post, die davor die erste säkulare Talmud-Oberschule beherbergte, in der Astronomie und Naturwissenschaften gelehrt wurden. Gleich gegenüber befindet sich das Gebäude der regierenden rechtskonservativen Partei Prawo i Sprawiedliwość (PiS). Dazwischen verläuft die Hauptstraße durch die Stadt, „Die Achse“, wie Bożena Schroeder sie nennt. Deutlicher lässt sich der politische Konflikt im Ort nicht darstellen.

Wir haben uns überlegt, wie die leere Stadt weiterleben kann

Bożena Schroeder

„Das Grenzland“ setzt auf Dialog zwischen den Nationen, Ethnien und Kulturen. PiS setzt auf Ausgrenzung, Hetze und Nationalismus. Die Partei hat seit vier Jahren die Fördergelder eingefroren, die allerdings in höherem Umfang durch Spenden wieder hereinkamen.

Im Zentrum ist auf einem großen Stein das Gerippe einer Stadt aufgebaut. Es ist Teil der nächsten Ausstellung „80 Jahre der Stille“ anlässlich der Pogrome gegen die Jüd*innen in Sejny. „Wir haben uns überlegt, wie die leere Stadt weiterleben kann, wenn die Menschen weg sind, unsere Nachbarn, die wir verloren haben“, sagt Bożena Schroeder.

Heute ist die Weiße Synagoge in Sejny ein Ort der Erinnerung Foto: Leonhard F. Seidl

Und so lässt sie Kinder die Stadt mithilfe historischer Kunstprojekte rekons­truieren. Sie blättert in einem Buch, angefertigt von Kindern, die „Muttergottes von Sejny“ ist darin genauso zu finden wie Zeichnungen von Roma. Im Hof stehen Mazewa – jüdische Grabplatten, auf denen auch Davidsterne eingraviert sind. Kinder haben sie getöpfert, weil die Deutschen die Mazewa zum Bau von Straßen und Brücken missbraucht hatten.

Bożena Schroeder hat sich gemeinsam mit ihren Mit­strei­ter*innen auf die Suche nach den Geschichten der vertriebenen und ermordeten Nach­bar*in­nen gemacht. Mithilfe von Fotos und eben der Kinder. Sie sollten ihre Großeltern und Nachbar*innen befragen, ihnen Geschichten entlocken. Dann haben sie die Stadt auf Leinen gemalt, Häuser aus Ton gefertigt und auf einem Tisch nachgebildet. Die gesammelten Geschichten wurden mit Fotos der Protagonist*innen in einem Buch veröffentlicht, das sich bisher über 2.000-mal verkauft hat. Gemeinsam mit Künst­ler*innen fertigten sie äußert professionell gemachte Kurzfilme an.

Einen der Kurzfilme hat die Übersetzerin Hanna Tomal im Rahmen der Erzählwerkstatt entwickelt. Darin geht es um das Porzellan ihrer Tante, die sich während des Kriegs in einen deutschen Soldaten verliebt hatte und sich verlobte. Er aber heiratete eine andere, trotzdem holte seine Familie sie nach Deutschland. Ihr Hochzeitsgeschenk – das Familienporzellan – bekam sie, heute steht es in Hanna Tomals Haus.

Erinnern mit den Kleinen

Nur eine Viertelstunde Autofahrt von Sejny entfernt befindet sich das moderne „Internationale Zentrum für Dialog der Grenzland-Stiftung“ – im Ort Krasnogruda, wo im Übrigen Literaturnobelpreisträger und Widerstandskämpfer Czesław Miłosz, als Kind seine Schulferien verbrachte, an einem malerischen See, von dem aus Litauen nur noch einen Steinwurf entfernt ist. Das Gut mit mehreren Gebäuden gehörte der Familie des Schriftstellers und wurde auch mithilfe der Nachbar*innen aufwendig restauriert.

Die Kulisse für den Kurzfilm über Hanna Tomals Tante wurde in der Kunstwerkstatt aus Scherenschnitt angefertigt, das dortige Klezmerorchester hat ihn mit Musik untermalt.

In den Filmen, über sechzig an der Zahl, aber auch in allen anderen Projekten offenbart sich der interdisziplinäre, künstlerische Ansatz der Stiftung. Über der bildnerischen Werkstatt malen die Kleinsten aus der Umgebung mit Naturmaterialien, auf Blättern, inmitten von Insekten als Kuscheltieren. Bezugnehmend auf Miłosz’ Gedichtzyklus „Gustl, der Verzauberte“, in dem sich der Protagonist in eine Fliege verwandelt und von nun an alles aus dessen Perspektive wahrnimmt. Im Hauptgebäude befinden sich die Bibliothek und Arbeitsräume und im Keller ein heimeliger Backsteinraum, in dem literarische Salons stattfinden.

Wohin der Hass führt

Einmal im Jahr kommen Menschen aus der Umgebung, aus Polen und Litauen, jeglicher Ethnie oder Religion zusammen, um sich künstlerisch zu betätigen. Sie schaffen eine unsichtbare Brücke, die Menschen symbolisch verbindet. Im Rahmen dieses Projekts entstand auch eine rote Brücke, die verwinkelt und eckig ist und die man aufmerksam überqueren muss, denn „der Teufel liebt gerade Brücken“, wie ein polnisches Sprichwort besagt.

Und dann ist da noch alle zwei Jahre das Klezmerfest „Fähren zwischen New York und Sejny“, bei dem schon Größen wie David Krakauer das Publikum zum Tanzen brachten. Meister wie sie bringen den Jungen ihre Kniffe bei und lernen wie­derum von ihnen.

Die gesammelten Geschichten fügen die Kinder in die „Chronik von Sejny“ ein: ein Theaterstück, zu dem jede der bisherigen fünf Generationen einen weiteren Baustein beigetragen hat. Sie spielen es in der Weißen Synagoge um den Tisch, auf dem Sejny in klein nachgebildet wurde. Sie singen jiddische, polnische, litauische, altrussische und Roma-Lieder, damit sie sie nicht vergessen, damit sie weiterhin Teil ihrer Stadt bleiben. „Die Hasssprache schleicht sich wieder in den Alltag ein“, sagt Bożena Schroe­der. Wozu der Hass führen kann, zeigen die Hausschlüssel, die in der Weißen Synagoge an der Wand hängen. Daneben steht auf Polnisch: „Die Juden von Sejny, 1939“.

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2 Kommentare

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  • Vielen Dank für den interessanten Einblick in dieses wichtigen Vorgang. Gerade in heutigen Zeiten ist das notwendig, in D, in PL und in LIT. - Aber eine Bitte: die Nazis und andere Antisemiten sagen immer "d i e Juden" und stecken alle in eine Schublade. Hier wird auch wieder dieses Schema verwendet: "d i e Deutschen". Es mag sein, dass für die Opfer es so aussah, als ob es "d i e Deutschen" waren, weil sie vielleicht keine anderen kannten. Aber es waren eben nicht a l l e Feutschen beteiligt! Es gab sogar Deutsche in KZs. Die waren sicher nicht beteiligt!

    • Leonhard F. Seidl , Autor*in des Artikels, Schriftsteller
      @Albrecht1952:

      Vielen Dank für die Rückmeldung ALBRECHT1952.

      Ich halte die Gleichsetzung der Täter: "Nazis und Antisemiten" mit den Jü*dinnen, also den Opfern für problematisch, selbst, wenn es "nur" um Differenzierung gehen soll. In den Interviews haben die Zeitzeug*innen von "den Deutschen" gesprochen" und es waren eben auch "die Deutschen", die die Jüd*innen deportiert haben, nachdem sie in Sejny einmarschiert waren. Da gibt es leider nichts zu differenzieren.



      Allerdings kommen in den gedrehten Kurzfilmen auch "Deutsche" vor, die nicht ausschließlich negative Eigenschaften haben, sie werden also nicht entmenschlicht.