Erdbeben und Verantwortung: Die Sache mit dem Schicksal
Höhere Gewalt entzieht sich der Einflussnahme. Doch das Ausmaß der Erdbebenkatastrophe in der Türkei hat von Menschen gemachte Ursachen.
I m Türkischen gibt es diese Redewendung: Geografie ist Schicksal. Es ist ein wehmütiger Spruch, einer, der sich vor allem auf die negativen Einflüsse bezieht, die die geografischen Bedingungen eines spezifischen Orts auf die dort lebenden Menschen haben. Unausgesprochen impliziert er, dass es dem Menschen in einer anderen Region, einer westlicheren etwa, besser ergehen würde.
Zugleich verneint aber der Schicksalsgedanke, dass die Situation änderbar ist. Die Vorbestimmung entzieht sich der Entscheidungsfreiheit des Menschen, weshalb eine Auflehnung oder Vorkehrungen sinnlos sind: Es ist schrecklich, wie es ist, aber so ist es nun einmal.
Von Schicksal sprach auch der türkische Präsident Erdoğan am Mittwoch, als er mit drei Tagen Verspätung im Epizentrum des verheerenden Erdbebens, im kurdisch-alevitischen Pazarcık, eintraf. Keine Frage, das Wort passt wunderbar zur religiösen Haltung der Regierungspartei AKP sowie zum politischen Vokabular eines Staatsoberhaupts, das die eigene Autorität mit dem Gehorsamsprinzip der Gottesfürchtigen zu rechtfertigen sucht.
Aber es gehört schon eine besondere Dreistigkeit dazu, vor eine Gruppe von Menschen zu treten, die seit Tagen bei Minusgraden auf den Katastrophenschutz warten, weil ihre Angehörigen in den Trümmern ihrer Häuser begraben sind, vielleicht noch schreiend, vielleicht bereits erfroren, und von Schicksal zu reden – anstatt von Verantwortung.
Gewiss lässt sich der genaue Zeitpunkt und Ort eines Erdbebens nicht berechnen, verhindern lässt sich ein Erdbeben auch nicht. Insofern entzieht es sich jeder Willenskraft, existiert als höhere Gewalt. Doch lässt sich durchaus erforschen, in welchen Regionen stärkere Erdbeben erwartet werden, und dass die Türkei sich in einer tektonischen Hochrisikozone befindet, ist hinlänglich bekannt. Vorkehrungen können getroffen werden.
AKP und Korruption
Das Erdbeben mag ein naturgegebenes Schicksal sein, das Nichteintreffen des Katastrophenschutzes in weiten Teilen des Landes ist es nicht. Das Einstürzen angeblich erdbebensicherer Hochhäuser ist es auch nicht. Und die Einschränkung der sozialen Netzwerke, wo Betroffene Informationen mit potenziellen Helfer_innen teilten, ist alles andere als Schicksal. Die Sperrung wurde staatlich angeordnet, wie das Ministerium für Kommunikation am Mittwochabend bestätigte. „Desinformation“ lautet die offizielle Begründung; Regierungskritik unterbinden, vermuten Oppositionelle.
Unterlassene Hilfeleistung ist das Eine. Vorkehrungen bewusst abzulehnen, um sich an den dafür nötigen Ressourcen zu bereichern, das Andere. Seit dem Korruptionsskandal Ende 2013 ist bekannt, dass die Familie Erdoğan und einige AKP-Minister profitable Beziehungen zum Bausektor pflegen. Zudem werden Fragen laut, wo die seit dem letzten großen Erdbeben 1999 erhobenen Erdbebensteuern abgeblieben sind. 37 Milliarden US-Dollar sollen seitdem von den Bürger_innen eingesammelt worden sein, für eine erdbebensichere Bebauung.
Ex-Finanzminister Mehmet Şimşek behauptet in einem gerade wieder aufgetauchten Video von 2011, das Geld sei zweckentfremdet und teilweise für das Rückzahlen von Staatsschulden verwendet worden. Allein die Gegenüberstellung der staatlichen Haushaltsmittel der Religionsbehörde Diyanet (35 Milliarden türkische Lira) und des Katastrophenschutzes Afad (8 Milliarden) verdeutlicht, wie wenig den Staat das körperliche Wohlergehen seiner Bürger_innen kümmert.
„Der Mensch braucht Gott. Er ist machtlos gegen das Schicksal“, heißt es an einer Stelle in Bertolt Brechts „Die Mutter“. Brecht, dessen 125. Geburtstags dieser Tage gedacht wird, begreift das Schicksal aber nicht als unabwendbares Los, sondern als ein durch Humanismus formbares, wenn er antworten lässt: „Wir sagen: Das Schicksal des Menschen ist der Mensch.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Kaputte Untersee-Datenkabel in Ostsee
Marineaufgebot gegen Saboteure
BSW-Anfrage zu Renten
16 Millionen Arbeitnehmern droht Rente unter 1.200 Euro
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Psychiater über Kinder und Mediennutzung
„Die Dinos bleiben schon lange im Schrank“