Erdbeben in der Türkei: „Wir hören Schreie“

Die Hilfsbereitschaft in der Türkei ist nach dem Erdbeben enorm. Rettungsmaßnahmen sind angelaufen – doch die Kälte erhöht den Zeitdruck.

Eine große Rauchwolke zieht hinter einem eingestürzten Haus vorbei

Eingestürzte Gebäude in der Hafenstadt İskenderun in der türkischen Provinz Hatay Foto: Burak Kara/getty images

Mehrere Männer liegen auf dem Bauch vor den Resten eines ehemals zehnstöckigen Hauses. Sie horchen auf die Rufe aus dem Innern des Trümmerberges. „Wir hören die Schreie, aber können nichts machen“, ruft einer. Ein anderer sagt: „Es gibt keine Rettungskräfte, keine Hilfskräfte, keine Soldaten, niemand. Dieser Ort ist von aller Hilfe verlassen“.

Die Szene aus der Stadt Antakya in der türkischen Provinz Hatay verbreitete sich am Dienstag in sozialen Netzwerken. Der nahe gelegene Flughafen ist zerstört, viele Straßen sind nicht mehr befahrbar. Die Stadt mit ihren rund 200.000 Ein­woh­ne­r*in­nen hat das Erdbeben vom Montagmorgen wohl am härtesten getroffen. Auch viele der rund 100.000 syrischen Geflüchteten in Antakya und Umgebung sind gestorben.

Warum, fragten am Montagabend verzweifelte Angehörige, schickt der Staat nicht die Marine, um Hilfsgüter und Suchmannschaften in die Region zu bringen? Die ersten Hel­fe­r*in­nen trafen am Dienstag in Hatay ein. Am Morgen erklärte Präsident Recep Tayyip Erdoğan den Ausnahmezustand für Hatay und neun weitere Provinzen. Die zehn am stärksten betroffenen Städte der Türkei, darunter auch Antakya, wurden zu Katastrophengebieten erklärt. Damit ist die Grundlage geschaffen, dass Sol­da­t*in­nen in großer Zahl anrücken können.

Für viele, die den Zusammenbruch ihrer Häuser zunächst unter den Trümmern überlebten, könnte das Militär aber schon zu spät kommen. Die Nacht auf Dienstag war die kälteste in diesem Winter im Südosten der Türkei. Die Temperaturen fielen bis auf minus fünf Grad. Unter Trümmern begrabene Menschen dürften nach der Katastrophe, die um vier Uhr am Montagmorgen begann, diese zweite Nacht in der Kälte kaum überlebt haben. Jedoch sei es noch zu früh, um aufzugeben, sagt Marten Mylius, Nothilfekoordinator bei der Hilfsorganisation Care gegenüber der taz am Dienstagnachmittag. „Wunder geschehen immer wieder.“

Bis zu 20.000 Tote

Zahlen, wie viele Personen unter ihren Häusern begraben wurden, gebe es nicht, teilte die Koordinatorin des Deutschen Roten Kreuzes, Charlotte von Lenthe, mit. Bilder der Zerstörung lassen aber erahnen, dass es viele Tausend sein müssen. Allein in Antakya hatte man bis Dienstagnachmittag 890 Tote gezählt. Insgesamt sind in der Türkei und Syrien bis Dienstagnachmittag zwischen 5.000 und 6.000 Menschen tot geborgen worden. Hilfsorganisationen befürchten, dass diese Zahl sich noch vervielfachen könnte; Ex­per­t*in­nen rechnen mit bis zu 20.000 Toten.

Er arbeite seit zwanzig Jahren in der Nothilfe, doch das Erdbeben vom Montag sei für ihn eine besondere Katastrophe, sagt Mylius. Einerseits bestehe im türkisch-syrischen Grenzgebiet zwar eine ausgezeichnete Hilfsinfrastruktur mit Büros, Mitarbeiter*innen, die bereits vor Ort waren, und Lagerhallen mit Hilfsgütern wie Decken oder Hygienekits. Dies bedeutet andererseits aber auch, dass die Not­hel­fe­r*in­nen selbst betroffen sind. „Unsere Helfer stehen auf der Straße im Schnee, unsere Büros und Lager sind teilweise beschädigt. Die Helfer stecken selber mitten in der Katastrophe.“

Allein der Kontakt zu den Mit­ar­bei­te­r*in­nen vor Ort sei schwierig. Telefone gingen aus, weil kein Strom vorhanden sei. Hinzu kommt, dass Straßen nicht befahrbar, Flughäfen beschädigt, Hotels möglicherweise einsturzgefährdet sind. „Eine lange Liste an Problemen“, sagt Mylius.

Trotz der Schwierigkeiten konnten etliche Tausend Menschen vom türkischen Katastrophenschutz Afad gerettet werden. Gesundheitsminister Fahrettin Koca hatte am Montagabend von rund 8.000 Geretteten gesprochen. Vor allem diese geglückten Rettungen sind in den regierungsnahen TV-Kanälen zu sehen, während das Internet voll ist von Szenen wie der in Antakya.

Große Solidaritätswelle angerollt

Über alle Partei-, Religions- und ethnischen Grenzen hinweg ist eine Solidaritätswelle angerollt. In Istanbul, Izmir und den anderen Großstädten des Landes sind von privaten Initiator*innen, aber auch von Stadtverwaltungen Sammelstellen eingerichtet worden. In Scharen liefern ganze Nachbarschaften warme Kleidung, Kohleöfen, Decken, Verbandszeug oder was sonst gebraucht werden könnte ab. Wer nicht bis zu einer Sammelstelle gehen will, kann einen Sack Kleidung oder Decken bei jeder Poststelle abgeben.

Die Schlangen vor den Blutspendestationen in Istanbul sind so lang, dass die Leute gebeten werden, einen Termin für die folgenden Tage zu machen. Als bekannt wurde, dass zu wenige Hel­fe­r*in­nen im Katastrophengebiet sind, fuhren Tausende überwiegend junge Männer in Istanbul zum Flughafen, um in das Krisengebiet zu reisen. Jedoch gibt es zu wenig Flüge und intakte Flughäfen in der Region. Die meisten Hel­fe­r*in­nen landen in Adana. Die Stadt ist zwar auch betroffen, liegt aber am Rand des Katastrophengebiets.

Auch die internationalen Ka­ta­stro­phen­hel­fe­r*in­nen – die ersten kamen aus Israel und Griechenland – landeten am Dienstag in Adana. Von dort ist es jedoch wegen der Zerstörungen von Straßen und Brücken schwierig, weiter nach Osten vorzudringen. Die Größe der betroffenen Region ist eine der Hauptschwierigkeiten. Nimmt man noch die verwüsteten Gebiete in Syrien dazu, könnten rund 23 Millionen Menschen von dem Beben betroffen sein, erklärte die Weltgesundheitsorganisation am Dienstag.

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