Epoche des Menschen: Explosiv ins nächste Zeitalter
Der Beginn einer neuen Epoche der Erdgeschichte soll diesen Sommer beschlossen werden. Das Anthropozän soll zeitgleich mit der Atombombe beginnen.
Der Astronom Carl Sagan veranschaulichte 1977 in seinem Cosmic Calendar die Entwicklung der Erde anhand eines Kalenderjahres: Ereignete sich der Urknall am 1. Januar um 0:00 Uhr, so entstand die Erde um den 2. September herum. Erste primitive Lebensformen gab es ab dem 21. September, und erst am vorletzten Tag des Jahres starben die Dinosaurier aus. Die ersten Hominiden tauchen dann am Nachmittag des 31. Dezember auf, an dessen spätem Abend, um 23:48 h, der Homo Sapiens die Bühne betritt. Unsere aktuelle erdgeschichtliche Epoche, das Holozän, beginnt erst in der letzten halben Minute dieses kosmischen Jahrs, um 23:59:32 h.
Nun, 28 Sekunden später, sind wir offenbar in einen neuen erdgeschichtlichen Abschnitt eingetreten, das Anthropozän. Offiziell eingeführt werden soll es in diesem Sommer durch die Anthropocene Working Group (AWG), eine Untersektion der International Union für Geological Sciences (IUGS), die als Wächterin der Geologie bestimmt, wie Schulkinder die Erdgeschichte in Erdkunde lernen. Wann dieses Anthropozän begonnen hat, darüber wurde in den letzten 20 Jahren lange debattiert. Nun wird man seinen Beginn wohl auf eines der Jahre zwischen 1950 und 1953 ansetzen: nach dem Komischen Kalender wäre das am 31. Dezember um 23:59:59:83 h.
Die Einführung des Anthropozäns macht offiziell, was Wissenschaftler:innen seit dem 19. Jahrhundert diskutiert haben: Der Mensch ist zum biologischen und geologischen Faktor geworden. Er wurde, so der Anthropologe Christoph Antweiler, „zu einer Kraft, die den Planeten, genauer die Bio- und Geosphäre, maßgeblich formte. Einen empirisch gesicherten Bruch bildete der weltweite Trendwechsel von Bausteinen zu Beton bei Gebäuden seit etwa 1950 und die plötzliche Zunahme von Asphalt als Straßenbelag ab 1960.“ Auch die Biomasse der Nutztiere übersteigt mittlerweile die der freilebenden Tiere bei Weitem.
Paradoxerweise könnte also gerade der Erfolg des Menschen als Naturwandler seinen eigenen Untergang bedeuten – wenn nämlich die menschengemachte Erderwärmung mit der prognostizierten Wucht eintritt und die entsprechenden Kipppunkte auslöst. In einer bizarren Pointe wäre dann ausgerechnet das Anthropozän das letzte Zeitalter des anthropos, auch wenn es ihn überdauern würde.
Atombombe ausschlaggebend
Die AWG wird, nach mehrjähriger Vorarbeit, im Sommer in Berlin wohl offiziell einen Geomarker und einen Zeitpunkt vorschlagen, mit denen sie das Anthropozän beginnen lassen will. Der Termin der Verkündung wurde mehrmals verschoben, denn die geologische Festlegung des Anthropozäns ist kompliziert: Der Marker muss noch in ferner Zukunft nachweisbar sein, und zwar im Gestein.
Der aktuelle Anstieg der CO2-Emissionen lässt sich seit 1780, die Erderwärmung seit etwa 1850 nachweisen; was es aber braucht, ist ein sogenannter Global Stratigraphic Section and Point (GSSP), also ein Nachweis, dass sich etwas in der Natur global und schlagartig geändert hat.
Das können Fossilien sein, die nur bis beziehungsweise erst ab einem bestimmten Datum auftreten, oder Anomalien in der Zusammensetzung der Atmosphäre, die in sogenannten Bohrkernen konserviert wird. So wird der Übergang vom Erdmittelalter zur Erdneuzeit vor 66 Millionen Jahren an einer erhöhten Konzentration von Iridium festgemacht. Sie lässt sich erst bei Gestein ab diesem Alter nachweisen – und kam mit dem Asteroiden, der die Dinosaurier ausrottete, auf die Erde.
Für die Welle der kulturellen und ökologischen Umbrüche seit etwa 1950 prägte mit anderen der – erst in diesem Januar verstorbene – US-amerikanische Chemiker Will Steffen den Begriff der „Great Acceleration“, der „Großen Beschleunigung“.
Niemals in der Geschichte der Menschheit habe sich die Biosphäre in kurzer Zeit so radikal verändert wie in den vergangenen siebzig Jahren. CO2-Ausstoß, Temperatur, Kunststoffe: die Kurven aller dieser Indikatoren gehen, nachdem sie für Jahrhunderte und Jahrtausende flach verlaufen, auf einmal exponentiell nach oben. Man spricht daher vom Hockeyschlägermodell.
Im Falle des Anthropozäns wird sich der voraussichtliche GSSP auf ebenjene Zeit beziehen, und zwar auf den radioaktiven Fallout seit den ersten oberirdischen Atombombentests um 1950. Denn anders als der CO2-Gehalt, der sich zwar in vergleichsweise kurzer Zeit, aber dennoch sukzessive erhöht, tritt die neuartige erhöhte Konzentration von Uran und Plutonium schlagartig auf – und wird Jahrhunderttausende, wenn nicht Jahrmillionen brauchen, um sich wieder abzubauen.
So werden nicht die Erderwärmung und die menschlichen Treibhausgasemissionen seit der Industrialisierung den Ausschlag für ein neues Zeitalter geben, sondern die Atombombe, hervorgegangen aus der phantasmagorischen Fähigkeit des Menschen, nicht nur unter die Erdoberfläche, sondern sogar auf die Ebene der Elementarteilchen vorzudringen, Atomkerne zu spalten und damit apokalyptische Energien freizusetzen.
Christoph Antweiler, Anthropologe
Das Holozän, die erdgeschichtliche Stufe, auf der wir uns seit 11.800 Jahren befunden haben, wäre damit vorbei. Für die geologische Verortung des Anthropozäns sind mehrere Sites mit gut erhaltenen Gesteinsformationen in der Auswahl. Der Lake Crawford in Ontario in Kanada mit seinen vom Menschen unberührten Sedimenten hat aktuell wohl besonders gute Aussichten.
Dass man das Anthropozän erst um 1950 beginnen lassen will, war und ist nicht unwidersprochen. Zum einen lässt sich alles, was die Philosophie der Postmoderne, der Moderne oder der Neuzeit zuschreibt – die prometheische Selbsterhöhung des Menschen, der instrumentelle Weltzugriff, Patriarchat, Kapitalismus und Umweltzerstörung –, auch schon dem Holozän im Ganzen vorwerfen. Es begann mit dem Ende der letzten Kaltzeit, das die landwirtschaftliche Revolution, Sesshaftigkeit und damit Zivilisation ermöglichte.
Zum anderen gibt es auch in der Naturwissenschaft Überlegungen, das Anthropozän früher anzusetzen. William Ruddiman, ein Hauptvertreter der Early Anthropocene Hypothesis, argumentierte schon 2003 mit der Erhöhung des Methangehalts in der Atmosphäre vor etwa 9.000 Jahren, die auf den Beginn des Reisanbaus in Ostasien zurückgeht. Paul Crutzen und Eugene Stoermer, die den Begriff Anthropozän im Jahr 2000 popularisierten, schlugen als seinen Beginn das Jahr 1784 vor: koinzident zum Beginn der Industrialisierung und dem des anthropogenen Anstiegs der atmosphärischen CO2-Konzentration.
Nun aber soll das Anthropozän um 1950 begonnen haben und damit parallel zur Großen Beschleunigung. Damit würde die AWG einer Idee von Jan Zalasiewicz folgen: Der britische Geologe ist Vorsitzender der Subcommission for Quarternary Stratigraphy, einer Unterabteilung der IUGS, und bezeichnete als Beginn des Anthropozäns den 16. Juli 1945, 11:29:21 Uhr: den Moment des ersten erfolgreichen Atombombentests in Alamogordo.
Damit beugt die AWG auch der Tendenz zur Beschwichtigung vor, die einer zu weiten Rückdatierung des Anthropozäns innewohnt. Diese könnte nämlich dazu verleiten, mit „es war ja schon immer so“ zu argumentieren und damit die Grenzsituation des menschengemachten Klimawandels kleinzureden – auch wenn der am Ende nicht als primärer Marker für das Anthropozän fungiert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Demokratieförderung nach Ende der Ampel
Die Lage ist dramatisch